Der Mensch sucht nicht nach der Wahrheit, der Mensch sucht nach Antworten, sagt der französische Schriftsteller Daniel Pennac. Das Internet ist eine riesige Antwortmaschine, und tagging ist der spielerischste und demokratischste Weg, die Masse an Informationen darin zu organisieren.
Die ersten Webverzeichnisse arbeiteten wie Bibliothekskataloge, nämlich mit festen Klassifizierungen, um Inhalte und Daten zu strukturieren, und viele Portale funktionieren ja auch heute noch so.
What goes with the grilled fish?
Kategorien sind aber ein sehr starres Konzept: Entweder sind sie so umfassend, dass sie bei großen Informationsmengen nur wenig Übersichtlichkeit verschaffen, oder sie verästeln sich in ein labyrinthisches Netz aus Sub- und Subsubkategorien.
„When I’m shopping for wine online, the standard methods of presentation mean little to me – what’s the difference between a California cabernet, a French merlot, an Australian shiraz?“, schreibt der Usability-Experte Peter Merholz. „If I were in a store, I could find a salesperson to navigate this sea of options, asking questions like, „What goes with grilled fish?“ or „Can you recommend a fruity red wine?“ However, online wine stores lose customers who don’t understand highly specialized wine categorizations.“
Schubladendenken
Moderne Systeme zum Daten- und Inhaltsmanagement sind zwar meist in der Lage, Informationen flexibler zuzuordnen und etwa in mehrere Schubladen gleichzeitig einzusortieren, aber das Problem bleibt: Wenn ich etwas suche, muss ich meist erst einmal wissen, welche Schubladen dafür existieren könnten. Dass die Schubladen meistens nicht von denen gebaut werden, die die Informationen nutzen, ist da nur ein Nebenaspekt.
Das Internet bietet die Möglichkeit, den Nutzer stärker einzubinden. Firmen wie Google und Amazon haben das zum Teil schon fruchtbar gemacht, indem sie Verweiskriterien, Nutzerrezensionen und Empfehlungslisten implementierten. Damit arbeiten die Nutzer selbst an der Systematisierung der Metadaten mit, um Inhalte auffindbar zu machen.
Social bookmarks
Die Praxis des Taggings geht da noch einen Schritt weiter. Dazu muß man sich erst einmal anschauen, was da eigentlich gemacht wird. Pionier war möglicherweise die Website Del.icio.us: Dort kann man Links speichern, verwalten und mit anderen Nutzern austauschen. Statt die Links in starre Kategorien einzusortieren, versieht man sie mit Schlagworten („tags“). Die Zahl der Schlagwörter, die man einem Link zuordnen kann, ist dabei unbegrenzt. Sowohl die persönlichen Links als auch jedes Schlagwort können über feste URLs aufgesucht werden.
Del.icio.us bietet aber mehr: Social bookmarking nennt der Dienst sein Angebot. Unter den Schlagwörtern sehe ich natürlich auch die Links, die andere Nutzer mit dem gleichen Begriff abgelegt haben: Rund um die Wörter entsteht ein Universum aus Verweisen und Querbezügen, eine Art Taxonomie, oder – auf neo-amerikanisch – eine „folksonomy“.
A flat namespace
Andere Websites haben dieses System inzwischen adaptiert, am populärsten der Photosharing-Dienst Flickr, wo Nutzer ihre Bilder nicht nach vordefinierten Kategorien einsortieren, sondern selbst die Schlagwörter suchen. Das Portal Technorati macht es möglich, Blogs über bestimmte Schlagwörter aufzusuchen.
Anders als in einem Web-Katalog hängen die Schlagwörter aber nur lose miteinander zusammen: „In a folksonomy the set of terms is a flat namespace“, schreibt Adam Mathes: „There are no clearly defined relations between the terms in the vocabulary“, wie beispielsweise bei Gattungsbegriffen.
Unkontrollierbares Vokabular
Die Beliebigkeit dieses Zusammenhanges schafft ein „unkontrollierbares Vokabular“, wie Mathes das nennt. Das hat auch Nachteile: Es schafft Mehrdeutigkeiten und Mißverständnisse, wie Mathes etwa am Beispiel der unterschiedlichen Links zeigt, die unter dem Tag „Filter“ abgelegt sind. Andere Links, die inhaltlich zusammenpassen würden, finden sich in unterschiedlichen Tags wieder, etwa „Mac“, Macintosh“ oder „Apple“.
Desire lines
Auf den ersten Blick scheint es damit fast unmöglich, eine Information gezielt zu finden. Andererseits: Tags verleiten zum „browsen“, zum herumstöbern und dabei zum spontanen und unerwarteten Auffinden. Merholz vergleicht die tags mit den sogenannten desire lines: Wilde Pfade, die im Laufe der Zeit in der Landschaft ausgetreten werden, bis sie irgendwann verbindlichen Verbindungswege sind.
Weil die Folksonomien direkt an Feedback-Prozesse gekoppelt werden, sind die Eintrittsbarrieren für Mitwirkung, Diskussion und Kooperation. Der ursprüngliche Anreiz für die Wahl eines Schlagwortes mag zwar individuell sein (ich bezeichne ein Foto mit einem Wörtern, die mir helfen, es später wiederzufinden), aber im Austausch mit anderen Nutzern bilden sich andere Möglichkeiten der Einordnung, Katalogisierung und Verschlagwortung.
So Meta It Hurts
Mathes hat ein hübsches Beispiel dafür, wie das Tagging kreative Prozesse und Diskussionen anstoßen kann: Auf Flickr gibt es die Rubrik Sometaithurts. Anfangs waren in dieser Rubrik vor allem die Flickr-Entwickler dabei zu sehen, wie sie an Flickr arbeiteten. Inzwischen gibt es da alle möglichen Bilder: Flickr-User fotografieren sich dabei, wie sie Fotos machen und ihren Computer oder Flickr nutzen. Von krisseligen Handy-Fotos bis zu Photoshop-Bearbeitungen ist alles dabei. Selbstreflexivität kann auch Charme haben.
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