Aus Anlaß der Diskussion um den Status des Kölner Doms hab ich ein wenig in Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein von 1790 herumgeblättert. Und da gibt’s – neben einem wenig schmeichelhaften Vergleich Kölns mit Düsseldorf – eine bemerkenswerte Gegensetzung von Italien und Deutschland.
Um die zu verstehen, muß man aber etwas ausholen. Forster, Goethe-Freund, Weltumsegler mit Cook und jakobinischer Revolutionär in Mainz, ist zwar voller Bewunderung für den Dom, „diesen herrlichen Tempel“, aber für das „finstre, traurige Kölln“ findet er keine guten Worte: „Wie wenig stimmt das Innere dieser weitläuftigen, aber halb entvölkerten Stadt mit dem vielversprechenden Anblick von der Flußseite überein!“
Zu viel Schmutz, zu viele zerlumpte Gestalten überall, ganz anders als in Düsseldorf, wo die Altstadt damals grade eine frisch herausgeputzte Neustadt war. Und wer die Schuld am elenden Kölner Stadtbild trägt, ist für ihn auch klar: Die „Kleriserei“ und der von ihr ausgehaltene abergläubische Pöbel, vor allem die „zahlreiche Bande von sitten- und gewissenlosen Bettlern, die auf Kosten der arbeitenden Klasse leben“.
Denn die „Bettlerrotten“, da hat er keinen Zweifel, sind die „Miliz“ der „Geistlichen aller Orden, die hier auf allen Wegen wimmeln“: „Allein da sie träge, unwissend und abergläubisch ist, wird sie ein Werkzeug in der Hand ihrer theils kurzsichtigen, sinnlichen, theils ränkevollen, herrschbegierigen Führer.“ Und er fährt fort:
Das sicherste Zeichen eines zerrütteten, schlecht eingerichteten, kranken Staats hat man immer daran, wenn er eine große Menge Müßiggänger nährt. Der Fleißige, der die Früchte seines Schweißes mit diesen Raubbienen theilen muß, kann sich endlich des Gedankens nicht erwehren, daß man die unbilligste Forderung an ihn thut, indem man seiner Redlichkeit die Strafe auferlegt, die eigentlich strafwürdigen Faulenzer zu füttern.
Das könnte so fast auch im Parteiprogramm der FDP stehen, aber Forster geht es noch um ein anderes Argument: Nichtstun ist deshalb eine Sünde, weil es den Ehrgeiz des Menschen lähmt, seine Position zu verbessern. Und ein Mensch ohne eigenen Ehrgeiz ist potenziell ein williges Werkzeug in den Händen von Despoten. Darum ist der „Arbeitsame unstreitig sittlicher, gesunder und glücklicher als der Müßiggänger; er ist ein Mensch, wo dieser nur ein Thier, und zwar mit menschlichen Anlagen ein desto gefährlicheres Thier“.
Ein besonders geschmackloses Sinnbild dafür findet er in den Knochen der Goldenen Kammer von Sankt Ursula:
Allein, daß man die Stirne hat, dieses zusammengeraffte Gemisch von Menschen- und Pferdeknochen, welche vermuthlich einmal ein Schlachtfeld deckte, für ein Heiligthum auszugeben, und daß die Köllner sich auf diese Heiligkeit tothschlagen lassen, oder, was noch schlimmer ist, den kühnen Zweifler selbst leicht ohne Umstände todtschlagen könnten: das zeugt von der dicken Finsterniß, welche hier in Religionssachen herrscht.
Tiefe Religiösität gibt es aber auch in anderen Ländern, und dort hat sie Forster offenbar nicht so abgeschreckt. Der Vergleich mit Italien bringt ihn jedenfalls zur Frage, „welche Ursachen in verschiedenen Ländern dieselbe Religion so umbilden, daß sie in ihren Wirkungen auf den Charakter der Einwohner sich nicht mehr gleich bleibt“. Und dann versucht er, die Frage selbst zu beantworten:
Warum herrscht zum Beispiel in Kölln ein schwarzgallichter Fanaticismus in der Andacht, in Rom hingegen Leichtsinn und heitere Freude? Sind es die niederländischen Nebel und die lauen, gestirnten Nächte Italiens, welche diesen Unterschied bemerkbar machen? oder steckt es schon von undenklichen Zeiten her im italienischen und im deutschen Blute, daß jenes den Zauber der erhöheten Sinnlichkeit über alle Gegenstände verbreitet, dieses aber selbst eine Religion, welche so lebhaft auf die Sinne wirkt, finster und menschenfeindlich machen kann? Ich gestehe, daß ich viel auf die Einwirkung eines milden Himmelstriches halte; und so auffallend der Unterschied zwischen dem niedrigen Bettler in Köln und dem edleren Lazarone in Neapel ist, rechne ich ihn doch größtentheils auf die klimatische Verschiedenheit ihres Aufenthalts. In Italien entwickelt schon allein das Klima den gesunden Menschenverstand; wer dort faullenzt, der ist, nach Mrs. Piozzi’s Bemerkung, nur nicht hungrig. Sobald ihn hungert, greift er zur Arbeit, weil sein Verstand ihn dieses Mittel als untrüglich einsehen läßt. Hingegen versuch‘ es jemand, dem Pöbel in Kölln von Arbeit zu sprechen!
Da malt Forster kräftig mit am idealisierten Italienbild seiner Zeit: In Seumes wenig später geschriebenem Spaziergang nach Syrakus gibt es durchaus ein paar blutige Beispiele dafür, wie sich auch in Neapel etwa ein williger Mob fanatisieren ließ. Aber das Ideal steht ja für eine Sehnsucht, nämlich „Leichtsinn und heitere Freude“auch in einer produktivitätsfixierten Welt finden zu können. Welche müßigere Tätigkeit könnte es geben, als tagelang den Rhein entlang zu reisen, ohne Auftrag oder produktives Ziel? Forster hatte aber ein Ziel, nämlich den Ausbruch aus dem Frust seiner langweiligen literarischen Brotarbeit, der „gelehrten Galeere“.
Ein paar Seiten weiter besucht Forster ein Mönchskloster bei Düsseldorf. Der Mönch, der ihn führt, „war über achtzig Jahr alt, und sah wenigstens zwanzig Jahre jünger aus“. Bewundern mag er das nicht: „Auf seinem übrigens sehr guthmütigen Gesichte, war die Leere des Gedächtnisses, die Armuth des Ideenvorraths, unverkennbar.“ Und er stellt eine rhetorische Frage:
Was ist nun besser: einige Runzeln mehr und einen durch Übung gebildeten, durch Erfahrung und Thätigkeit bereicherten Geist zu Grabe zu nehmen, oder sorglos, ohne Leidenschaften, ohne Geistesgenuß, in stiller Andacht hinzubrüten und zuletzt ganz sanft in seinem Fette zu ersticken?
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