Die alte Frau kam auf einen Stock gestützt und mit einer grau-grünen Einkaufstasche aus Kunstleder in der Hand. Sie war klein und schmächtig, nur halb so groß wie ich, und sie trug eine dicke Brille, hinter der man die Augen nur als wäßrige Punkte sehen konnte.
Ich weiß nicht mehr, mit welcher Bemerkung sie unsere Konversation einleitete, aber es war irgendetwas Allgemeines über den Bus und die Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit, mit der die Busfahrer den Fahrplan einhalten. Die Kunst der Konversation besteht in Italien immer darin, solche Gemeinplätze als Ausgangspunkt festzulegen und von dort aus zielstrebig auf die Orte zuzusteuern, die einen wirklich interessieren: Wer bist du? Woher kommst du? Was bringt dich dazu, wie ich an einem Herbstmorgen an einer abgelegenen Bushaltestelle kurz vor Montepulciano herumzustehen?
Ich antwortete brav, und fragte ebenso höflich zurück, wo sie denn hin wolle. Nach San Quirico, denn da ist heute Markttag, hieß es. Zur Sicherheit, damit ich ihr glaube, dass es wirklich auf den Markt geht und nicht einfach nur zum Spass nach San Quirico, zählte sie mir die Markttage der anderen Gemeinden auch auf: „Pienza am Monttag. Chianciano am Donnerstag, Montepulciano am Freitag.“ Der in San Quirico tauge eigentlich nicht viel, fügte sie hinzu.
Aber ich sei wohl nicht von hier, das höre man. Nein, ich bin aus Deutschland, antwortete ich brav. „Ah, Deutschland“, und da wurde ihre Stimme auf einmal lebhaft: „Im Krieg waren viele Deutsche bei uns“, sagte sie. „Ich schätze die Deutschen. Bei uns im Haus waren viele Soldaten. Alles junge Männer, so wie Sie. Alle höflich, und alle sehr gut erzogen.“
Der schwärmerische Ton in ihrer Stimme überraschte mich. Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders gewesen und hatte meine Herkunft nur als notwendiges Detail eines routinierten Small-Talks abgespult. Dass das Gespräch jetzt auf den Krieg kam, wollte mir gar nicht so recht zu diesem warmen und angenehmen Herbsttag passen. Und schon gar nicht wollte mir passen, dass die Dame ins Schwärmen geriet, bei der Erinnerung an den Krieg und die Deutschen.
Inzwischen war der Bus gekommen, wir waren eingestiegen und sie setzte sich auf die Bank neben mir. „Einmal kam ein Offizier, mit schwarzer Uniform, ein schöner Mann“, erzählte sie. (Nahm sie mich dabei überhaupt noch wahr?) „Das war ein sehr höflicher Mensch. Sie können im Schlafzimmer übernachten, sagte meine Mutter zu ihm, dort gibt es ein bequemes Bett. Nein, sagte er, ich schlafe hier auf dem Teppich, vor dem Kaminfeuer. Das ist warm genug.“
Nein, das paßte mir nicht, dass ich jetzt der Anlaß dafür war, wenn eine alte Dame in romantischen Erinnerungen an einen SS-Offizier schwelgte. Ich versuchte, mich dadurch zu beruhigen, dass ich heimlich das Alter der Dame schätzte und von dort aus zurückrechnete, wie alt sie wohl damals, in den Kriegsjahren, gewesen sein mochte. Wenn sie jetzt etwa siebzig ist, dann war sie damals grade zehn, sagte ich mir. In so einem Alter ist man selbstverständlich beeindruckt, wenn jemand mit einer schönen Uniform vor einem steht, wenn er dann noch dazu höflich und nett ist. Vielleicht, sagte ich mir weiter, bekommt man auch noch etwas geschenkt von diesem Jemand in der schönen Uniform. Aber wie kam es, dass sich diese Erinnerung so tief eingebrannt hatte und das erste war, was der alten Frau einfiel zu Deutschland und dem Krieg? Wollte sie einfach nur höflich sein zu dem einsamen Spaziergänger, der da mit kurzen Hosen und Rucksack in der Landschaft gestanden hatte?
Mir fielen nur lahme Einwürfe ein, aber die schienen sie in ihrer Erinnerung auch nicht wirklich zu stören. Ich war froh, als wir durch Pienza kamen, und ich das Gespräch zumindest kurz wieder auf einen Gemeinplatz führen konnte. („Eine schöne Stadt.“ – „Ja, sehr schön, sehr schön.“) Aber auf der Fahrt nach San Quirico zeigte sie mir ein einsames Bauernhaus, etwas abseits der Straße: „Hier, da haben die Deutschen ihr Hauptquartier gehabt. Und ringsherum standen die Panzer und die Autos.“
Ich schwieg und schaute aus dem Bus. Die Landschaft ringsherum tat ihr Bestes, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Es war dunstig, aber man konnte weit sehen, der Blick in die karge Hügellandschaft des Val d’Orcia war wunderschön und erinnerte mich an Bilder von Südspanien. In den Senken wattebauschten noch Wolkenfelder und die Berge, die den Horizont eingrenzten, schimmerten blaugrün, auf einigen leuchteten hellfleckig Dörfer und Bauernhöfe.
Plötzlich wies die alte Frau auf ein paar ausgewaschene Abhänge am Rand eines der Hügel: Steilhänge, typisch für die Gegend hier, wie schwere Wunden in die Landschaft geschlagen, immer wie der Rand eines Kraters oder ein aufgelassener Steinbruch aussehend. „Das sind die Crete“, sagte sie. „Die sind schon uralt. Alles Überreste von den Etruskern“, und sie nickte gewichtig. Ich lächelte, weil die Überzeugung, mit der diese folkloristische Behauptung vorgetragen wurde, die schwärmerischen Gedanken davor relativierte: Als ob ich damit einen Beleg erhalten hätte, dass die alte Frau nun mal keine Ahnung von Geschichte habe.
In San Quirico stieg sie aus und nickte mir noch mal kurz zu: „Buona giornata“, wechselten wir höflich. Aber sie hatte schon eine andere ältere Dame gefunden und plauderte über den Markt, die Preise und ähnliche Dinge. Zischend schloss die Tür, der Bus fuhr weiter, und urplötzlich, kurz vor Buonconvento, versanken wir in einem Nebenloch aus dicken Schwaden. Ich sah nichts mehr, nur die schemenhaften Umrisse von Bäumen, die sich wie schlampige Bleistiftstriche nach oben reckten.
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