Blogs und Gegenöffentlichkeit


Als der Tsunami über die südostasiatischen Küsten rollte, waren Bilder und Nachrichten aus den Katastrophengebieten recht bald in Blogs zu finden. Ähnliches passierte, als die Bomben in London hoch gingen oder Katrina New Orleans verwürstete: Wer andere Geschichten sehen wollte, als das, was zunächst in den Nachrichten verbreitet wurde, mußte online gehen. Noch mehr: Die Berichterstattung in den Medien versuchte sehr schnell, dieses Potenzial aufzugreifen. Links auf den Webseiten von BBC und CNN, und von anderen Nachrichtenmedien auch, ermunterten Augenzeugen dazu, sich zu melden und ihre Geschichten zu erzählen.

Nicht wenige sehen darum in den Blogs eine langsam wachsende Gegenöffentlichkeit sehen. Das schließt auch verwandte Genres ein: Flickr als ein Archiv der Bilder, die reguläre Nachrichten nicht mehr zeigen wollen. Aber stimmt das auch so ohne weiteres? Haben die Mainstream-Medien, im Umweg über die Reality-Shows und Doku-Soaps, über die verwackelte Handkamera-Ästhetik von MTV und Dogma, nicht längst damit begonnen, selbst Authentizität und Realitätsnähe zu simulieren? Das bewußte In-Kauf-nehmen des Unperfekten, des Dilettantischen, des Privaten, das in Nachmittagsshows, in Quiz- und Werbesendern, aber auch in feuilletonistischeren Formaten, stattfindet: Ist das nicht alles auch schon Ausdruck ein und desselben Gestus, einer Inszenierung, die keine Inszenierung sein will, einer rhetorischen Haltung, die keine Rhetorik mehr sein will und keine Haltung?

Bei allem kann man nicht übersehen, dass der Blickwinkel sich kaum geändert hat: Wer glaubt, Gegenöffentlichkeit könnte auch bedeuten, dass den Geräuschen, die von den Massenmedien erzeugt werden, eigene Töne, gar andere Melodien entgesetzt werden, irrt sich. Man muß sich ja nur mal bei den verschiednen Blog-Aggregatoren umschauen: Was Technorati als die heißtesten Themen eines Tages benennt, unterscheidet sich von dem was bei Google News als Schlagzeilen auftaucht nur marginal – allenfalls findet sich die eine oder andere Technologie-Notiz mehr darin.

Was zu weit ab ist, oder in Gegenden stattfindet, wo es keine WordPress-Installationen gibt und keine Flickr-Konten, das ist auch in den Blogs weitgehend abwesend. Wer bei Flickr nach Bildern aus den Erdbebengebieten in Kaschmir sucht, muß sich lange umschauen. Immerhin, es gibt sie. Pakistan mag vielleicht noch zu weit ab liegen, aber auch die unruhigen Nächte in Clichy finden in französischen Blogs relativ wenig statt, und auch in den Photo-Communities gibt es wenig Banlieue-Bilder. Die Kids dort haben eben anderes zu tun als zu bloggen, und das Internet, noch mehr dieser ganze Web-2.0-Hype, ist im wesentlichen eben immer noch ein weißes Mittelklasse-Ding.

Das Stimmengewirr aus den Blogs klingt manchmal vielleicht ein bißchen chaotisch. Aber es unterscheidet sich nicht wirklich vom Soundtrack, den man sonst so hört.

UPDATE (5.11.): Dass die Nächte von Paris in den Blogs nicht stattfinden, stimmt natürlich nicht mehr: Am Freitag waren die Unruhen auf Platz eins der am häufigsten diskutierten Themen bei Technorati (um nur *ein* Beispiel zu nennen), „Paris“ stand außerdem auf Platz sechs. Das hat aber doch eine Weile gedauert, und der Blickwinkel der meisten bei Technorati gelisteten Blogs ist außerdem einer von draußen, diskutiert wird da eher darüber, ob die Franzosen Schadenfreude verdienen oder nicht. Informationen über das, was in den Banlieues wirklich abgeht, sind schwer zu kriegen.

Noch ein UPDATE (7.11.): Die Libération bringt einen Artikel über Blogs aus den Banlieues – leider nur sehr oberflächlich, außer bei einem Anbieter (Skyblog) scheint sich der Autor nicht groß umgeschaut zu haben. Aber immerhin, man sieht, es gibt doch Plattformen, und das relativiert natürlich das oben gesagte etwas. Die NZZ wirft nebenbei auch ein Licht auf die Bedeutung, die neue Kommunikationsmittel in einer solchen Revolte spielen können, die Folgerung, Dass es sich bei der Gewalt nur um eine „entwurzelte Spontaneität zum Terror“ handelt, ist aber mindestens diskussionswürdig.

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