Tagging gilt als eines der Bauelemente des Web 2.0: Zur Idee des sozialen Netzes gehört die von der Folksonomie, und dabei vor allem die Annahme, dass Strukturen auch dann funktionieren können, wenn sie nicht objektiv und hierarchisch geordnet sind, sondern subjektiv und disparat. Nun gibt es an dieser Behauptung mehr oder weniger heftige Kritik, die ja auch hier schon formuliert worden ist. Da kommt nun ein Artikel im Online-Magazin dlib gerade recht, der die Pros und Contras recht kompakt referiert, ein paar Lösungsansätze vorstellt und am Ende zu der Pointe kommt: Bitte nicht aufräumen – gerade das Chaos ist der Sinn der Veranstaltung.
Die Kritik am Einsatz folksonomischer Prinzipien stößt sich, verkürzt gesagt, daran, dass die Ergebnisse chaotisch und unstrukturiert sind. Wenn jeder die Zuschreibungen, unter denen etwas abgelegt wird, selbst aussuchen kann, dann hat man am Ende einen wirren Wust von Wörtern, graphisch verpackt in unübersichtliche Tagclouds, ohne dass der praktischen Anwendung damit in irgendeiner Weise gedient ist.
Die Kritik ist von den Befürwortern der Tagging-Praxis durchaus aufgenommen worden, und einige Lösungsansätze kann man in der Praxis hier und da schon sehen. del.icio.us zum Beispiel bietet die Möglichkeit, Tags unter Oberbegriffen zu bündeln (was im Prinzip der Hierarchie wieder eine Hintertür öffnet). Mehrere Sites bieten Empfehlungslisten, beispielsweise mit den zehn populärsten Tags zu einem Thema oder mit Tags, die der Nutzer zu einem anderen Zeitpunkt eingesetzt hat. Andere schlagen vor, bestimmte Konventionen vorzugeben, „best practices“ für’s Tagging sozusagen, etwa dafür, wie mit Sonderzeichen, auseinandergeschriebenen Begriffen oder Phrasen vorzugehen sei.
An all diesen Lösungskonzepten könnte man wiederum kritisieren, dass sie dann doch wieder unterlaufen, was eigentlich als großer Vorteil der Folksonomien ausgelobt wird, nämlich die Freiheit von objektiven Vorgaben und der Ursprung ausschließlich im subjektiven und/oder sozialen Wissen des Taggers.
Ein etwas kreativerer Lösungsansatz könnte sein, etwas mehr Klarheit über die Entscheidungsprozesse zu gewinnen, die zur Auswahl von Tags führen. Darüber gibt es bisher kaum quantitative Daten. Ein paar erste und nicht sonderlich repräsentative Studien zeigen schon mal, dass es so etwas wie ein power law gibt: Die meistgenutzten Tags sind am sichtbarsten und werden darum auch am häufigsten angewandt. Oder einfach gesagt: „Few tags used by many users, many tags used by few users“.
Statistisch sieht es in der Regel so aus, dass sogenannte „single-use tags“ erstaunlicherweise relativ selten auftreten: Sie machen etwa ein Zehntel, maximal ein Fünftel der eingesetzten Begriffe aus. Nun wäre es interessant, zu wissen, ob das mit der Größe der betrachteten Gruppe korreliert, in der Tendenz scheint sich so etwas wie eine Konvergenz der Tags herauszubilden, je mehr Nutzer bei einem Dienst zusammenkommen.
Um über solche Verhaltensweisen Aufschluß zu bekommen, müßte man nicht unbedingt eine Studie fahren: Marieke Guy und Emma Tonkin, die Autorinnen des dlib-Artikels, erwähnen zwei Beispiele, einmal die Implementierung von Diskussionstools, mit denen über die Nützlichkeit bestimmter Tags debattiert werden kann, zum anderen ein user profiling, um herauszufinden, wer wann was wie getaggt hat.
Beides macht natürlich die Handhabung einer solchen Plattform wieder um einiges unpraktischer. (Abgesehen davon, dass die Analyse von Nutzerprofilen auch immer die Frage nach der Privatsphäre aufwirft.)
Aber ist nicht überhaupt die Frage, ob es solche tagging best practices überhaupt geben muss, und ob es nicht vielmehr eine contradictio in terminis ist, im Zusammenhang mit dem Tagging irgendwelche Praktiken als „besser“ oder „schlechter“ einzustufen? Ist Konsens überhaupt (a) erreichbar und (b) wünschenswert? Die Autorinnen beantworten diese Frage mit einem herzlichen „Kommt drauf an“.
Möglicherweise liegt das wirkliche Problem mit Folksonomien nicht in ihren chaotischen Tags, sondern darin, dass sie zwei Herren zugleich dienen wollen: der persönlichen Sammlung, und der kollektiven Sammlung. Gibt es so etwas wie die beste dieser zwei Welten?
Ein Problem der aktuellen Diskussion über Tags sehen Guy und Tonkin darin, dass die Praxis immer nur von einem Anwendungszweck aus betrachtet wird, nämlich dem Suchen und Finden. Da liegt die Lösung, vermuten beide, vielleicht nicht in einer Optimierung der Vergabepraktiken, sondern der Analysemethoden für das vorhandene Material, sprich: bessere Algorithmen für die Suche zu entwickeln.
Es ist möglich, dass die Daten, die durch folksonomisches Tagging gesammelt werden, schon kompletter sind, als wir denken. Mehr aus diesen Daten herauszuholen, das ist vielleicht nur eine Frage, inwieweit man ein angemessenes Systems von Algorithmen darüberlegt: Anders gesagt, was einige der schlampigen Tags angeht, könnte es schon genügen, wenn man die Daten einfach anders betrachtet. Einige single-use tags sind beispielsweise ausdrücklich als solche gedacht, zum Beispiel die Breiten- und Längenmarkierungen, die beim Geotagging genutzt werden.
Anders gesagt: Die Vergabe von Tags hat etwas von einem kreativen Prozeß. Da Einschränkungen vorzunehmen, und zwar nur unter dem Blickwinkel einer Ergebnisorientierung, die festlegt, was hinterher dabei herauskommen soll, das schränkt diese Kreativität ein, die ja gerade durch die Einführung einer folksonomischen Praxis freigesetzt werden soll.
Eine Folksonomie fusioniert, divergiert und entwickelt sich in ähnlicher Weise, wie eine Sprache das tut: Durch Gebrauch und Interaktion.
Der Satz ist von Amy Gahran, wird aber von Guy und Tonkin zustimmend zitiert. Und was Gahran sagt, läßt sich ja im Grunde auf vieles anwenden, was zur Zeit unter dem Schlagwort Web 2.0 durch die Gegend rauscht: Nicht der Überschuß an garen, halbgaren und rohen Ideen ist das Problem, sondern die vielen Kochbücher und Franchising-Ketten, die das Feld schon wieder für sich beanspruchen und genau wissen wollen, was daraus zu machen ist.
Dagegen kann man nur sagen: Mehr Chaos wagen. Seid schlampig und mehret euch.
Via netbib.
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