Post aus Schweden: Mr H – vom fabelhaften Blog Giornale Nuovo – war so freundlich, mir ein Exemplar von Giulio Camillos Idea del theatro zuzuschicken. Das ist eines der merkwürdigsten Bücher der europäischen Kulturgeschichte, nämlich ein Bauplan für ein begehbares Speichermedium, ein Gedächtnistheater, das das Wissen der Welt in einer komplexen räumlichen Struktur organisiert. Man kann darin einen extravaganten Vorläufer moderner Multimedia-Werkzeuge sehen, und es gibt einige, die versucht haben, Camillos Ideen für die Informationsaufbereitung auf dem Computer-Desktop oder im Internet fruchtbar zu machen.
Ich habe Camillos Schrift bisher nur kursorisch durchgeblättert, aber das Vorwort der Herausgeberin Lina Bolzoni gibt schon einige wichtige Anhaltspunkte. Camillo war einer der berühmtesten Rhetoriker seiner Zeit, und nicht zuletzt deswegen einer der wichtigsten Kontrahenten des beginnenden Humanismus, insbesondere Erasmus‘ von Rotterdam.
Als begeisterter Ciceronianer war Camillo ein Anhänger der antiken ars memoria: Das Gedächtnis ist nun mal das unmittelbarste Speichermedium, über das der Mensch verfügt, und solange es an anderen technischen Aufzeichnungsmögilchkeiten mangelte, bestand die Kunst darin, das Erinnerungsvermögen so zu trainieren, dass es Informationen und Wissen einerseits möglichst umfassend speichert und andererseits leicht abrufbar macht, nichts anderes also, als was heute der Computer leisten soll.
Die Idee, dass Informationen leichter zu strukturieren sind, wenn man sie mit Bildern verknüpft, ist dabei wohl so alt wie das Denken selbst. Die antike Rhetorik setzte das – ausgehend von der anonymen Schrift Ad Herrenium – in eine konkrete Handlungsanweisung um, nämlich in der Empfehlung, Inhalte räumlich anzuordnen, in den sprichwörtlichen Gedankengebäuden. Eine Rede ist im Grunde nicht anderes als eine Art intellektueller Schnitzeljagd: Ein strukturierter Spaziergang durch ein imaginäres Haus, bei dem man von Zimmer zu Zimmer die Symbole aufliest, die die jeweiligen Aspekte einer Rede darstellen.
Die besondere Pointe der antiken Rhetorik war dabei die These, dass diese Bilder so grotesk wie möglich sein müßten: Denn je stärker ein Bild, desto mehr vermag es uns zu erschüttern, und um so nachhaltiger prägt es sich dem Gedächtnis ein. Die Gedächnisleistung ist somit nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein emotionaler Akt.
Prominentester Vertreter dieses Konzepts war kein geringerer als Cicero, aber es gab auch Gegner, vor allem Quintilian: Der hielt die Idee für albern, weil man sich im Grunde gleich zwei Dinge merken müsse, nämlich Bild und Bedeutung, statt sich auf den Kerngehalt zu fokussieren. Die mittelalterliche Theologie legte in der Folge mehr Wert auf den Text selbst, auf das gebetsmühlenartige Repetieren und Auswändiglernen, nicht zuletzt als Akt der Demut, des Sich-Unterordnens und Anverwandelns an den als Autorität beglaubigten Text.
Ganz verloren ging die antike Tradition natürlich nicht, man findet sie hier und da bei Kirchenlehrern wie Albertus Magnus oder Cornelius Agrippa, und vor allem in der Predigtpraxis der Bettelorden: Da sind es vor allem die „starken Bilder“, die imagines agentes, die den moralischen Gehalt der Rede mit visueller Überzeugungskraft darstellen sollen.
Die Renaissance brachte die Textkritik zurück, und damit ein neues Interesse daran, wie Texte zu verstehen und analysieren sind. Konkret bedeutete das, die Wahrheit eines Textes nicht mehr darin zu suchen, was er buchstäblich aussagte, sondern ihn als Gleichnis für eine dahinterliegende Ordnung der Dinge zu nehmen: Die sieben Tage der Schöpfungsgeschichte sind nicht wörtlich zu lesen, sondern als Analogie für Prinzipien, die sich auch anderswo in den Mikro- und Makrokosmen aufspüren lassen. Die Kunst des Gedächtnisses hat damit nicht mehr nur die pragmatische Funktion, einem Redner beim Aufbau seiner Ansprache zu helfen, sondern sie liefert Grundrisse, aus denen sich auf die Architektur des gesamten Kosmos rückschließen läßt.
Anders könnte man auch nicht verstehen, warum die ars memoria gerade dann ihre größten Erfolge feierte, als der Buchdruck auftauchte und damit die technische Aufzeichnung, Vervielfältigung und Aufbewahrung von Wissen erleichterte. Aber damit vermehrte sich exponential auch die Masse der verfügbaren Informationen: Und wichtiger als alles zu wissen – das kann man ja immer einfacher abspeichern -, war nun, zu wissen, wo man alles finden kann. Das ist der Ursprung der Enzyklopädien und der systematisch angelegten Bibliotheken, in einem weiteren Sinne auch der Spezialisierung und Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen.
Camillos Idee eines Gedächtnistheaters steht da gewissermaßen am Scharnier: Zum einen gibt es noch die Vorstellung, dass Wissen etwas ist, was komplett und ganzheitlich erfahren werden kann. Zum anderen verweist die räumliche Strukturierung bereits auf die Notwendigkeit, ein System bereitzustellen, dass das Auffinden von Informationen intuitiv und intellektuell nachvollziehbar macht.
Camillo orientiert sich dabei an der räumlichen Konzeption des Amphitheaters, polt allerdings die äußeren Gegebenheiten um: Der Zuschauer steht auf der Bühne, und er blickt dorthin, wo sonst die Zuschauer sitzen. Der somit zur Bühne umfunktionierte Zuschauerraum ist nach einem komplexen System organisiert, das sich auf symbolische und zahlenmystische Überlegungen der zeitgenössischen Theologie, Hermetik und Kabbalistik bezieht Wie in einer Bibliothek, einem Museum oder einem Kuriositätenkabinett sind in diesem Theaterraum eine Vielzahl von Gegenständen, Bildern und Texten untergebracht, und Camillos Überzeugung war es, dass das Ordnungsprinzip diese Gegenstände und ihren Zusammenhang untereinander so intuitiv erfaßbar macht, dass man – wie ein Zeitgenosse es formulierte – wie ein Cicero über sie reden könnte, auch wenn man nicht über das Wissen eines Cicero verfüge. Intuitiv erfaßbar ist diese Ordnung, weil sie auf der Ebene der Analogie die Ordnung des Kosmos widerspiegelt: Die Gedächtnismaschine ist somit auch eine Art Wahrheitsmaschine.
Der Platz reicht hier nicht, um die Komplexität des Systems darzustellen, aber man kann in etwa versuchen, die Funktionsweise so zu veranschaulichen: Das System einer modernen Bibliothek abstrahiert die Inhalte in Hierarchien und Kategorien, die in Zahlen oder Siglen ausgedrückt werden können – „Abteilung E3, Buch Ca 1550“. Die Abstraktion ist dabei allenfalls selbstreferentiell: Die Zahlen- und Zeichenketten folgen nur einer internen Systematik. Camillos System arbeitet mit Zurodnungen wie „Proteus auf der Ebene Merkurs“ oder „Elefanten auf der Ebene von Merkur“, wobei alle diese Zuordnungen nicht nur aufeinander verweisen, sondern eine allgemeine, übergeordnete Systematik widerspiegeln. Camillos Anspruch dabei: Im Unterschied zu einem abstrakten Bibliothekssystem, das erst erklärt und dann gelernt werden muß, ist das Theater intuitiv erfaßbar. Simpel gesagt: Man schaut drauf und weiß sofort, worum es geht und wie man sich darin bewegen muß.
Die Schrift L’idea del theatro versucht, den Bauplan für dieses gigantische Unterfangen zu skizzieren, indem sie die symbolischen und mystischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Etagen des Bauwerks erläutert. Es ist dabei nicht unwichtig, dass das Buch erst posthum veröffentlich wurde, wie Camillo überhaupt Zeit seines Lebens so gut wie nichts publiziert hat: Schon im ersten Kapitel weist er darauf hin, dass das Wissen um das wahre Wesen der Welt ein Privileg für die chosen few ist. Auf diesen elitären Charakter weist ja schon die Umpolung in der Anlage seines Theaters hin: Der Zuschauer – als Regisseur und Hauptdarsteller zugleich – blickt dorthin, wo sonst die Masse des Publikums sitzt. Damals wie heute war die Skepsis groß gegenüber den neuen technischen Errungenschaften, vor allem den Chancen und Risiken der Vervielfältigung und Multiplizierung von Informationen: Mit dem gleichen skeptischen Blick, mit dem heute einige Kritiker auf das Internet schauen, blickte man damals auf den Buchdruck.
Camillo scheint auch nur einen einzigen Versuch unternommen zu haben, sein Projekt in die Praxis umzusetzen, nämlich mit großzügiger Unterstützung des französischen Königs Franz‘ I., der ja auch Leonardos Lebensabend finanzierte. Es scheint dabei eine Art Geheimhalteabkommen gegeben zu haben, und ob Camillo damals tatsächlich etwas gebaut hat, ist nicht sicher. Immerhin weiß man, dass einige prominente Künstler mit Arbeiten betraut wurden, die im Theater untergebracht werden sollten, beispielsweise Tizian, von dem die hier abgebildete Allegorie der Zeit stammt.
Als Camillos Schrift dann sechs Jahre nach seinem Tod auf den Markt kam, wurde sie rasch zum Bestseller. Aber das war zugleich auch das letzte Aufflackern der Kunst des Gedächtnisses: Die Enzyklopädisten traten ihren Siegeszug an, und Camillo geriet ebenso schnell wieder in Vergessenheit. Es war die englische Historikerin Frances Yates, die ihn im 20. Jahrhundert wiederentdeckte und das Gedächtnistheater zum Ausgangspunkt für ihr grandioses Buch The Art of Memory machte.
Und plötzlich stieß die Idee einer räumlichen Darstellung von Wissen wieder auf großes Interesse: Das beste Beispiel dafür ist Apples Idee, die Benutzeroberfläche des Computers, den „Schreibtisch“, nach visuellen Aspekten zu gestalten, um die Navigation durch die gespeicherten Daten zu erleichtern. Man muß nur mal nach seinem Camillos Namen googeln und wird eine Vielzahl von Verweisen finden, von theoretischen Überlegungen bis hin zu Kunstprojekten, die die Idee des Gedächtnistheaters mit den Funktionsweisen von Hypertext und World Wide Web in Verbindung bringen.
Man könnte, wenn man wollte, sogar die Linie bis hin zu den aktuellen Folksonomien ziehen, denn auch Camillo ordnete das Wissen nicht hierarchisch, sondern nach assoziativen Gesichtspunkten. Allerdings fällt auch auf, dass er vor allem in den Diskussionen der Achtziger und Neunziger Jahre auftaucht: Da ging es noch darum, dem einzelnen Nutzer vor dem Computer (und später vor dem Internet) die Handhabung zu erleichtern. In die aktuelle Diskussion um das sogenannte Web 2.0, wo es eher um den sozialen Austausch und die Vernetzung der Daten geht, scheint Camillos elitäre Wissenskonzeption, mit dem vereinzelten Zuschauer, der im Theater das Wissen der Welt für sich durchmißt, nicht mehr so gut zu passen.
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