Eine junge Frau sitzt vor einem aufgeschlagenen Buch. Ihr Kopf und ihre Schultern sind mit einem blauen Tuch bedeckt. Ansonsten ist die Szenerie sparsam ausgestattet, und der dunkle Hintergrund läßt das Bild ähnlich geheimnisvoll erscheinen wie Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring. Der Blick der jungen Frau ist nachdenklich, aber sie lächelt. Sie schaut aus dem Bild heraus, allerdings nicht zu uns, und die Haltung ihrer Hände verrät, dass hier etwas anderes zu sehen ist als nur das Porträt einer lesenden Frau.
Worum es geht, sagt der Titel, den das Bild bekommen hat: L’Annunziata, die Verkündigung. Aber eine herkömmliche Verkündigungsszene ist das nicht. Wir sehen Maria, aber nicht den Engel Gabriel. Und wenn wir genau hinsehen, fällt uns auf, dass wir gar nicht so genau sagen können, welcher Moment hier wiedergegeben ist: Der Augenblick der Verkündigung selbst? Die Ankunft des Engels? Oder hat er den Raum schon wieder verlassen?
Die Antwort ist: Wir sehen alles auf einmal. Der Maler, von dem das Bild stammt, Antonello von Messina, hat hier nicht einfach einen Moment abfotografiert. Wir sehen eine Geschichte, die nicht als chronologische Abfolge wiedergegeben ist, sondern als ein Nebeneinander von Gesten. Antonello hat die zweidimensionale Fläche nicht nur durch die dritte Dimension, die räumliche Darstellung, ergänzt, sondern er hat auch die vierte gebändigt, nämlich die Zeit. Denn es geht hier um etwas Göttliches, und das Göttliche ist jenseits der Zeit.
Beginnen wir rechts unten im Bild: Da sehen wir den Moment, in dem der Engel den Raum betritt. Wir erkennen das am aufgeschlagenen Buch, das vor Maria auf dem Lesepult liegt, aber die Lektüre ist unterbrochen, zwei Seiten hängen in der Luft, als ob sie gerade umgeblättert werden sollten und nun von einem Windhauch erfaßt worden sind.
Die Hand, die im Buch blätterte, sehen wir rechts über dem Buch schweben, leicht angewinkelt, als ob sie gerade zurückgezogen wurde: Eine Geste des Erschreckens, aber auch der Bestürzung über den seltsamen Gruß des Engels (benedicta tu in mulieribus) und der Zurückweisung seiner ungeheuerliche Botschaft. Die Gesten sind nicht voneinander abgegrenzt, vielmehr geht die eine aus der anderen hervor und nimmt bereits die nächste vorweg.
Denn mit der linken Hand verstärkt Maria die Zurückhaltung, die die rechte Hand andeutet: Sie hält das Tuch über der Brust zusammen, als wolle sie ihre Jungfräulichkeit betonen. Aber die Finger der linken Hand sind nicht gekrümmt, die Haltung ist grazil und mit Zeige- und Mittelfinger zeigt Maria auf sich selbst: Der erste Schreck und das Erstaunen geht über in das Begreifen. Die Frau auf dem Bild zeigt uns, dass sie eine Auserwählte ist.
Das kann man ihren Augen ansehen: Sie schaut in die Ferne, aber nicht aus Verlegenheit, sondern selbstbewußt und zufrieden, wie eine Königin, die weiß, was ihre Rolle ist. Darüber lächelt sie. Aber dieses Lächeln hat etwas Mysteriöses, man spürt, dass sie mehr erfahren hat als nur eine Botschaft, und wir fragen uns, ob der Erzengel sie nicht in Worten unterrichtet hat, sondern mit einem Kuss auf diese Lippen.
Das ist ein weiterer rätselhafter Aspekt dieses Bildes: Dass Antonello seiner Maria eine so unverhohlen sinnliche Ausstrahlung beigemessen hat. Wir könnten dem Bild auch ohne weiteres eine erotische Interpretation unterlegen und darin die Darstellung einer erwachenden Sexualität sehen, von der Erkenntnis, der erst das Erschrecken folgt, über das Akzeptieren bis zum selbstbewußten Stolz darauf. Eine solche Interpretation wäre natürlich nicht im Sinne der katholischen Kirche, für die die Schönheit Marias gerade aus ihrer absoluten Reinheit entspringt: Tota pulchra es Maria et macula originalis non est in te.
Aber wer weiß, ob Antonello nicht eine andere Deutung intendiert hatte: Diese Maria ist schön, gerade weil sie aus Fleisch und Blut ist. Der Makel, der der Sinnlichkeit und der Körperlichkeit ursprünglich angehaftet haben mag, ist keiner mehr; der Körper ist kein Gefängnis, sondern mit den Gesten, die er produziert, ist er die Voraussetzung dafür, dass es so etwas wie Wissen und Erkenntnis überhaupt gibt. Und darüber kann man schon mal lächeln.
(Bilder von Antonello sind bis Juni 2006 in den Scuderie del Quirinale in Rom zu sehen.)
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