Ich habe schon lange nicht mehr gehört von ihr. Sie lebt in Italien, aber sie stammt aus dem Land, das ich zur Zeit jeden Tag in den Nachrichten sehe. Das heißt, man sieht ja eigentlich nur die Haupstadt des Landes, und von der auch nur den einen Platz, auf dem sich Tag für Tag Tausende Menschen versammeln und demonstrieren gegen diesen merkwürdigen Präsidenten, der wie eine Comic-Figur aussieht und darum vermutlich auch meint, wie eine regieren zu müssen.
Ich frage mich, ob Freunde und Verwandte von ihr dabei sind bei den Demonstrationen. Das wäre ja möglich, und ich sehe sie grade in ihrer kleinen Wohnung sitzen und telefonieren oder simsen, um herauszubekommen, was los ist. Ich weiß, dass ihr das nahe gehen wird, denn stolz war sie schon auf ihre Heimat, auf die Freundlichkeit der Menschen dort, und auf die Stadt im Süden, aus der sie stammt, nicht weit von der ukrainischen Grenze und dem Reaktor von Tschernobyl entfernt.
Einmal sind wir zusammen essen gegangen und saßen vor einer kleinen Pizzeria, in einer Seitengasse, ein paar Schritte vom Marktplatz. Ein blonder Junge kam an den Tischen vorbei und legte auf jeden einen Zettel und ein paar billige Feuerzeuge. „Ich bin taubstumm und Waise“, stand auf dem Zettel, und dann noch die Bitte um ein paar Euro. Die Principessa guckte skeptisch: „Der ist von einer Organisation geschickt“, sagte sie. „Es sind viele von diesen Kindern unterwegs.“
Als der Junge wieder an unseren Tisch kam und den Zettel und die Feuerzeuge nehmen wollte, faßte sie seinen Arm und zeigte auf das Papier. Sie hatte ein paar kyrillische Buchstaben daraufgekritzelt und wollte, dass er sie las. Er las, stutzte, schaute etwas betreten und strahlte dann über das ganze Gesicht: Heftig gestikulierend, bat er um den Stift, kritzelte selbst etwas – und im Nu entspann sich auf dem Papier eine kleine Konversation, von der ich nichts verstand, aber in der es, erklärte mir die Principessa später, um sehr heimatliche Dinge ging. Natürlich haben wir auch ein Feuerzeug gekauft: Es liegt grade neben mir, während ich das hier schreibe.
Das letzte Mal, das wir uns getroffen haben, die Principessa und ich, das war an einem nebligen Dezembertag gewesen. Wir saßen auf den Stufen des Baptisteriums, gegenüber vom wunderschönen alten Dom und schauten auf die große Piazza daneben. Der Platz ist einer der schönsten in ganz Italien, obwohl er für eine italienische Piazza eher ungewöhnlich ist: Es gibt keine Cafés oder Geschäfte, so dass es hier abends fast menschenleer ist. Nur die Paläste der religiösen und weltlichen Macht stehen ringsherum, aber ihre Schlichtheit und Würdigkeit hat etwas Beruhigendes, so dass man wirklich glauben möchte, die Leute, die darin sitzen, haben nichts anderes zu tun als sich mit ernsthaften Dingen zu beschäftigen und dafür zu sorgen, dass es allen gut geht in dieser Stadt. Man fühlt sich auf eine sehr merkwürdige Art sicher auf diesem Platz.
Und während wir so da saßen und auf die Nebelschwaden schauten, die langsam über den Platz krochen, konnte ich verstehen, warum sie sich diese Stadt ausgesucht hatte. Und ich war ein bißchen neidisch. Daran muß ich jetzt auch immer denken, wenn ich die Bilder von dem Platz in der Haupstadt ihrer Heimat sehe.
(Nachtrag: Aktuelles zur Situation in Weißrußland gibt es unter anderem in diesem Blog. Dort gibt es auch einen Link zu einem Video, das möglicherweise eine Wahlmanipulation beweist.)
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