Zuerst sollte man sich eine Einladung für eine flämisch-australische Hochzeit besorgen. Wenn es sich bei Brautpaar und Hochzeitsgesellschaft vorwiegend um Orchestermusiker handelt, dann bekommt man komplette Rettungsszenarien für die darniederliegende europäische Brauwirtschaft vorgeführt.
Am nächsten Morgen wird man dann vermutlich in einem belgischen Schuhkarton aufwachen, der den Namen Hobbit Hotel trägt. Ein durchaus passender Name, wie man bei einem Blick auf die Größe der Betten feststellen wird. Ein Eindruck, der übrigens am nächsten Tag am Frühstücksbuffet bestätigt wird: Hier hat tatsächlich mal jemand Brötchen entwickelt, die an das durchschnittliche Fassungsvermögen eines Halblingmagens angepasst sind.
Das Wetter draussen wird man als „typisch englisch“ bezeichnen, (a) weil man am frühen Morgen das verschlafene Gegenüber noch nicht übermäßig originellen Einfällen beeindrucken kann und (b) weil es ja auch stimmt. Das wird also ein fauler Tag, so viel ist schon mal klar.
Zum Glück liegt Mechelen in der Nähe. Und es ist auch gut zu erreichen, weil die belgischen Straßenplaner das Areal zwischen Hotel und Altstadt großzügig mit Beton ausgelegt haben. Bei der Orientierung helfen auch ein paar Plattenbauten, die direkt am Eingang der Altstadt platziert worden sind und gut zu dem „typisch ostdeutschen“ Wetter passen.
Und man findet die Altstadt natürlich dank der Kathedrale, die dermaßen weithin sichtbar ins Zentrum gebaut ist, als habe man den Begriff der weithinnigen Sichtbarkeit ein für alle Mal definieren wollen. Möglicherweise sollte man die Kathedrale auch schon von Antwerpen aus sehen können, das ist die Stadt, die man in Mechelen ähnlich lustig hasst wie in Köln die Düsseldorfer.
Die Kathedrale ist aber wirklich beeindruckend, und das vor allem aus zwei Gründen. Zum einen passt ihre Monumentalität gar nicht so richtig in das Panorama der niederländischen Niedlichkeit, die das Stadtbild insgesamt auszeichnet: Die ausgesprochene Hübschheit und verschnörkelte Putzigkeit der Bürgerhäuschen, hauptsächlich um den Marktplatz herum. Da gibt es zum Beispiel einen Block von Häusern, der mitten in den Platz hineingebaut ist und der vor dem Hintergrund der überdimensionierten Domfassade tatsächlich wie eine Kulisse von Spielzeughäuschen wirkt.
Und zweitens ist da der Turm, der unvollendet geblieben ist, aber gerade weil ihm die Spitze fehlt, wirkt er viel massiger und klobiger als er wohl intendiert war. Diese Klobigkeit hat durchaus etwas implizit Bedrohliches, so wie bei manchen gut austrainierten Vorstadtbewohnern, die auch nicht immer so richtig wissen, wie sie ihre Kraft sortieren sollen.
Man wird dann natürlich hineingehen in die Kathedrale. Drinnen wird man sich zunächst sträuben, die gotischen Ausmaße der Kirche als Einschüchterungsversuch zu empfinden und lieber versuchen, das Elegante in der Anlage bewundern zu wollen. Aber das wird einem nicht wirklich gelingen: Selbst die Seitenkapellen sind hier riesig, wie kleine Höhlen schieben sie sich an die Halle des Hauptschiffes heran. Fast alles ist hier ins Monumentale gedacht: Die seltsame Altarkanzel zum Beispiel, ein hölzernes Gewucher aus Armen, Beinen, Ästen und Felsvorsprüngen, das eher wie der Vorausentwurf einer Szenerie für Disneys Schneewittchen wirkt (was noch verstärkt wird durch das eher drollige Gartentürchen, das die Treppe zur Kanzel abschließt), oder die goldene Felswand des Altars, die links und rechts von zwei monumentalen roten Fahnen eingerahmt wird. Man kann dieser Gigantomanie nur dann entkommen, ein bißchen zumindest, wenn man sich in den Wandelgang hinter dem Altar flüchtet: Die Nischen hier sind im 19. Jahrhundert eingerichtet und dekoriert worden, und das ganz im Stil der Salons in den Bürgerhäusern: Die Wandbemalungen spielen alle Variationsmöglichkeiten zwischen Neogotik und Art déco durch, und alles ist vollgeräumt wie das Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts.
Man wird die eigene Meinung irgendwo zwischen Bewunderung und Überfütterung eingeklemmt finden, oder zwischen dem Stolz, das jetzt also wirklich mal gesehen zu haben, und einer leichten Genervtheit über diejenigen, die über die Jahrhunderte die Gestaltung dieser Kirche zu verantworten haben und dabei nicht so richtig Maß halten konnten. Vielleicht ist man aber auch einfach ein bißchen zu müde und überfordert.
Aber man muss den Aufenthalt in der Kathedrale auch nicht zu lang werden lassen. Am besten macht man sich möglichst rasch auf die Suche nach der Kirche Onze-Lieve-Vrouw in Leliendaal, die liegt an der Bruul, der Haupteinkaufsstrasse. Das ist eine alte Jesuitenkirche, nicht die einzige in Mechelen, es gibt noch Sint-Pieter-en-Paul, aber Leliendaal ist die schönere: Ein klar strukturierter Innenraum, dessen Größe durch schwarze Holzbalken eingefangen und gerahmt wird, mit einer holzverkleideten Batterie von Beichtstühlen als Fundament. Diese Kirche wirkt fast wohnlich, auch weil die nette und erklärungsfreudige Dame am Eingang ein paar Wohnzimmermöbel in den Portalbereich gestellt hat, um es sich gemütlich zu machen.
Aufpassen muss man, wenn man nach der „Kirche mit dem Rubens“ fragt. Es gibt zwei, oft wird man zur Janskirche gelotst, einem düsteren Bauwerk mit seltsamer Ausgestaltung des Innenraums (zwei gleich große Altarräume nebeneinander), das wie ein Heimatmuseum vollgestopft ist. Von Rubens gibt es hier ein Triptychon mit einer Darstellung der Heiligen Drei Könige und Szenen der Johannesgeschichte auf den Seitenflügeln. Die Flügel sind so in den Hauptaltar einmontiert worden, dass man sie drehen kann, das wird aber nur in unregelmäßigen Abständen gemacht. Vom Rubens hat man nicht wirklich viel, die barocke Verzierung lenkt zu sehr ab, und man muss so großen Abstand halten, dass man die Bilder eher zur Kenntnis nehmen als betrachten kann.
Spannender wäre es gewesen, den wunderbaren Fischzug in der Marienkirche an der Dijle anzuschauen, aber da reichte dann die Zeit nicht mehr und das Wetter wurde inzwischen auch „typisch skandinavisch“. Also setzt man sich ins Auto, und fährt zurück unter den Scheinwerferalleen, die nachts dafür sorgen, dass die belgischen Autobahnen gut beleuchtet sind. Dabei ist das Land doch so eng, dass man ohnehin ständig über Autobahnen stolpert und gar nicht befürchten muss, keine zu finden. Aber möglicherweise geht es auch eher darum, das Land an sich auffindbar zu machen.
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