Fensterplatz


Fensterplatz

Wenn ich fliege, brauche ich immer einen Fensterplatz. Die Chance, die Welt wie einen Atlas ausgebreitet zu bekommen, ist zu verführerisch, als dass ich sie ignorieren könnte. Gut, wenn man Pech hat, schaut man nur auf eine weißgraue Wolkendecke. Aber das ist immer noch interessanter als den Fußbodenbelag oder die Schuppen des Vordermannes anzustarren.

Gregory Dicum geht es genau so. Während ich allerdings bisher nur so in die Landschaft geschaut habe, hat er schon zwei Bücher darüber geschrieben: Window Seat heißt das eine, Window Seat Europe das andere, den Untertitel haben beide gemeinsam: Reading the Landcscape from the Air. Es geht also wirklich um den Atlas, der sich da während eines Fluges unter einem ausbreitet, und aus dem man wesentlich mehr rauslesen kann als das, was der Käpt’n kurz mal durchsagt: „Wir überfliegen grade Innsbruck, und links sehen Sie den Großglockner.“

Die Stadt und den Berg hätte ich vielleicht auch gesehen, aber Dicum hat da noch mehr entdeckt:

die Skiabfahrten, die den Wald wie Risse durchziehen. Skiabfahrten sind immer von einheitlicher Breite, und sie mäandern die Abhänge hinab, wobei sie sich oft überkreuzen. Die Schussrinnen der Lawinen und Bergstürze ziehen dagegen immer schnurgerade talwärts, wobei sie nach unten hin auslaufen.

Und aus einer einfachen Beobachtung wird plötzlich ein kleiner Schlüssel, um ein paar Dinge im Zusammenspiel von Mensch und Natur zu begreifen. Es ist erstaunlich, wie viel man sehen kann, wenn einem die Welt zu Füßen liegt: In Pommern liegen die Narben des Bombenkrieges wie Schatten unter den Äckern. In Deutschland kann man die Flußbegradigungen noch an den toten Seitenarmen und Altwasserseen daneben erkennen, oder an Feldern, die noch nach alten Gemarkungslinien angelegt sind. In England bekommt man einen unmittelbaren Einblick in die Problematik der Nachkriegs-new towns, die heute entweder von der Urbanisierung aufgesogen werden oder veröden.

Window Seat Europe ist ein wunderbarer Reiseführer für alle, denen die Dinge, die beim Fliegen unter ihnen liegen, nicht gleichgültig sind. (Der erste Band ist für Flüge über Nordamerika gedacht). Und die Hülle ist sogar abwaschbar, für den Fall, dass mal der Tomatensaft umkippt. Ich werde ja jetzt bald wieder in der Luft unterwegs sein, und falls ich dann doch das Pech haben sollten, am Gang zu sitzen, kann ich ja meinem Sitznachbarn oder meiner Sitznachbarin daraus vorlesen. Oder ich besorge mir gleich noch das Coffee Book von Dicum, dann kann ich der Stewardess auch noch erzählen, woher die Plörre kommt, die sie da ausschenkt.

(Dicums Buch ist übrigens „manufactured in China“, sehe ich grade. Ach so: Eine kleine Website zum Buch gibt es auch, die erwähne ich aber nur der Vollständigkeit halber. Webseiten zum Buch sind halt doch nur ein bißchen PR-Text und Pressefotos plus ein paar eilig zusammengetragene Links, und die hier macht keine Ausnahme.)

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