Ceci n’est pas un Programmheft
Es gibt wohl kaum jemand, der das Sitzen im Wartezimmer nicht als Zeitverschwendung empfindet. Auch deswegen, weil man im Wartezimmer vor allem deshalb sitzt, um den Körper begutachten und reparieren zu lassen, was einen dann wieder daran erinnert, dass man den eben auch nur für eine begrenzte Zeit zur Verfügung hat. Vielleicht ist das auch der Grund, warum man im Wartezimmer so schnell auf grundsätzliche Dinge zu sprechen kommt, wenn man mit den Umsitzenden zu plaudern anfängt, und biographische Details erfährt, an die man selbst der investigativste Reporter nur selten herankommt. Man kann natürlich aus lauter Langeweile auch in den herumliegenden Zeitschriften blättern, aber da wird man ebenfalls nur mit Details aus dem Leben anderer Leute konfrontiert.
Sigrid könnte so ein Substrat eines langen Wartezimmeraufenthaltes einschliesslich ausgiebiger Zeitschriftenlektüre sein. Sigrid ist die Hauptfigur eines Stücks von Klaus Fehling, das „Sigrids Risiken“ heisst und eigentlich die Auskopplung aus einem umfassenderen Projekt ist, aber das lassen Sie sich lieber von ihm selbst erklären.
Wir lernen Sigrid in einem Wartezimmer kennen: In einer Arztpraxis im Norden von Köln, die ausnahmsweise am späten Abend geöffnet hat, um Fehlings Stück darin stattfinden zu lassen. Am Eingang bekommt man statt eines Programmheftes eine Pillenschachtel ausgehändigt, und darin findet man einen Beipackzettel, der über den Inhalt des Stückes informiert und auch über die Risiken und Nebenwirkungen, die für die Mitwirkenden gelten.
Dies ist keine Arztpraxis
Verkörpert wird Sigrid von Heidrun Grote, und die hat diesen Körper ins Wartezimmer bewegt, um ein paar Rezepte für die Mutter abzuholen. Aber dann wird Sigrid plötzlich selbst zur Patientin, muss nach einem Schwächeanfall auf eine Untersuchung warten und im Wartezimmer die Zeit totschlagen. Also erzählt sie uns ihre Biographie, und die zickzackt wie eine Fieberkurve durch mehrere Themen, die vor einiger Zeit in den Wartezimmerzeitschriften herumgereicht wurden (mittlerweile aber – ähnlich wie Sigrid – wieder in einen Ermüdungs- und Erschöpfungszustand geraten zu sein scheinen): Das Schicksal der Kriegsgeneration, deren beharrliches Ausweichen einer Auseinandersetzung mit dem Erlebten und Erfahrenen, das ihrer Kinder, der Rebellion um ’68 und deren Zuspitzung im Terrorismus der RAF, die Brechung der Perspektive durch den neuen Terrorismus der abstürzenden Flugzeuge und explodierenden Bahnhöfe.
Sigrid ist nämlich nicht nur Tochter und Patientin, sondern auch ehemalige Terroristin oder wenigstens Sympathisantin. Zwischenzeitlich, erzählt sie uns, sei sie sogar in die DDR emigriert, weil sie eine Kommode ihrer Mutter in eine konspirative Wohnung geräumt hatte. Oder so ähnlich, das Stück nimmt es da nicht so genau. Das Motiv mit der Kommode soll uns, vermute ich, auch eher an den realen Zusammenhang erinnern, als Anspielung auf die sogenannten „Hamburger Tanten“, Susanne Albrecht, Silke Maier-Witt und eben Sigrid Sternebeck, die bei mehreren Aktionen der RAF logistische Aufgaben übernommen haben, zum Beispiel die Einrichtung konspirativer Wohnungen.
Von Sternebeck gibt es übrigens dazu einen ganz interessanten Text zu finden, in dem sie über einige Anforderungen an die Wohnungssuche und -einrichtung erzählt, vor allem über den Aufwand, der getrieben musste, um eine größtmögliche Unsichtbarkeit und Unauffälligkeit herzustellen. Vor Jahren gab es mal einen Text von Diedrich Diederichsen, eine Rezension der Erinnerungen von Peter-Jürgen Boock, in der es unter anderem auch um die Paradoxie ging, dass gerade die vehementesten Gegner der deutschen Nachkriegsgesellschaft deren Rituale so detailliert wie möglich zu kopieren versuchten, um mit ihrer Mimikri nicht aufzufallen. Oder wie Sternebeck schreibt:
Der Flur hinter der Wohnungstür musste Seriosität ausstrahlen. Garderobe, Spiegel Läufer, ein Regenschirm, dazu ein kleines Bild oder Poster für den persönlichen Touch – fertig.
Sie wollten Revolutionäre sein, und dazu mussten sie Spießer werden: Das war wohl die paradoxeste Seite der RAF, und man kommt ihr in Sigrids Monolog ein bisschen näher. Auch wenn da vielleicht ein bisschen viele Motive auf einmal angespielt werden, aber Gespräche im Wartezimmer mäandern ja auch oft vom Nachbarschaftsklatsch in die Weltgeschichte. Grote und Regisseur Stefan Kraft haben den Text klugerweise auch nicht übermäßig belastet, sondern in eine kleine musikalische Fuge umgestaltet, in der Grote mit drei (nicht immer klar abgegrenzten) Stimmen spricht, sich selber zitiert, Textpassagen wiederholt und variier, und aus dem man unter anderem mitnehmen kann, dass es selbst in der Resignation keinen Grund gibt, nicht aufzustehen und trotzig Bella Ciao zu singen.
Das passt schon ganz gut in das Ambiente dieser Praxis mit dem Charme eines Einwohnermeldeamtes. Danach kommt man dann raus und steht auf der Hauptstraße in Weidenpesch. Auch so ein Viertel, mit dem die Zeit eher unbarmherzig umgegangen ist. Hier und da sind ein paar Schönheitsreparaturen durchgeführt worden, aber um alle Narben und Schorfwunden auszukurieren, müsste man die ganze Ecke hier mal in die Kur schicken. Was nichts am Fatalismus der Einwohner ändert.
Gott hat geholfen
Gott hilft weiter
steht über einem der Häuser, und in einer Küche brennt noch Licht. Und das bringt einen auf den Gedanken, dass die Geschichte von Sigrids Generation vielleicht in den Wartezimmern enden wird. Aber ihre entscheidenden Kapitel haben sich dann doch wohl eher in den Küchen der Studenten-WGs zugetragen. Aber das kann man auch schon bei Sigrid Sternebeck nachlesen:
In einer perfekt ausgestatteten Küche zu agieren, war auch mal schön. Illegale wollen schon mal was Selbstgekochtes essen.
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