Strandräuber


Es ist immer seltsam, wenn Orte, die man kennt, in den Nachrichten auftauchen. Branscombe ist ein englisches Idyll, zumindest im Sommer: Sanfte, grüne Hügel. Reetgedeckte Häuschen. Eine trutzige Kirche mit halb verwitterten Grabsteinen ringsum. Vor anderthalb Jahren war ich ein paar Mal dort, in dem schmalen Tal, dem man gar nicht anmerkt, dass es an der Küste liegt: Es läuft fast parallell zum Strand und öffnet sich erst ganz am Ende zum Strand hin. Die Mündung des Flüsschens ist ein beliebtes Ausflugsziel, zwischen den Klippen der Steilküste hat sich eine kleine Furt eingegraben, es gibt ein Lokal mit Biergarten, ein paar Schritte weiter ist ein Campingplatz, auf dem viele dieser großen englischen Caravans stehen, viel zu groß, um sie durch die schmalen Sträßchen in Südengland zu transportieren (weswegen die meisten auch dauerhaft hier stehen und im Notfall eher verkauft als woandershin transportiert werden).

Der South West Coast Path kommt hier vorbei und durchquert einige seiner spektakulärsten Abschnitte: Weiße Kalkfelsen haben sich zwischen die ansonsten tiefroten Klippen der Südküste geschoben, von der Landspitze des Beer Head kann man bis zum Dartmoor und zur Isle of Portland sehen, und im Gebiet Under Hooken, direkt am Campingplatz, schlängelt sich der Pfad durch dichtes und wild wucherndes Gestrüpp, dass sich auf dem Abraum eines riesigen Feldbruches angesiedelt hat.

Die ganze Szenerie wirkt dermaßen bilderbuchschön, dass man Branscombe auch für eine Inszenierung halten könnte, einen theme park englischer Dorfromantik. Was auch nicht ganz verkehrt ist: Man lebt hier ganz gut vom Tourismus, die Idylle wird säuberlich gepflegt, viele Häuschen sind mit öffentlichen Geldern hergerichtet und museal aufgeputzt worden, bei Wettbewerben à la „Unser Dorf soll schöner werden“ hat Branscombe diverse Auszeichnungen gewonnen, glaubt man den Broschüren des Fremdenverkehrs. Damit man vom Tourismus noch ein bißchen besser leben kann, hat man in der ganzen Region die Inszenierung noch eine Stufe weitergedreht und sich einen schicken Namen gegeben – Jurassic Coast – und ist sogar zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt worden, weil man an den Klippen wie in einem (tja) Bilderbuch verschiedene Phasen der Erdgeschichte betrachten kann (und natürlich nicht nur den Jura).

Zumindest lebt man von den Fremden besser als von den mühseligen Geschäftszweigen früherer Zeiten, zu denen neben der Landwirtschaft vor allem auch Schmuggel und Piraterie gehörten. Und dann gab es da natürlich noch das Strandgut, dass nach Stürmen unter den Steilfelsen angespült wurde. Damit die Ernte möglichst reichhaltig wurde, half man noch nach, in dem man auf den Steilfelsen falsche Feuerzeichen setzte und die Schiffer in die Irre führte. Das war eine Familienangelegenheit: Frauen machten die Feuer, die Kinder standen Schmiere im Hinterlandund leisteten Spitzeldienste, und die Männer fuhren mit den Booten raus, wenn tatsächlich ein Schiff auf Grund gelaufen war.

An vielen Namen von Felsen oder Klippen kann man noch erkennen, dass es sich um recht dauerhafte Wirtschaftszweige gehandelt haben muss: Brandy Head, Coal Point. Im benachbarten Beer waren die Schmuggel- und Piratenclans so tief verwurzelt in der Dorfgesellschaft, dass sich die Staatsgewalt bis weit ins 19. Jahrhundert nur selten zu Razzien vorbeitraute. (Was den königlichen Hof, insbesondere Queen Victoria, nicht davon abhielt, ein besonderes Faible für beer lace zu entwickeln, die Spitzendeckchen und -tücher, an denen die Einwohnerinnen von Beer klöppelten, vielleicht auch, wenn sie grade oben auf den Klippen das Feuer bewachten.)

Das ist natürlich alles in die Folklore dieser Gegend eingesunken, und in der Regel wird es nur noch für die Touristen aufbereitet. Aber vor ein paar Tagen ist Kyrill auch über die Jurassic Coast hinweggezogen, ein Frachtschiff ist dadurch in Seenot geraten und mußte in die Nähe der Küste geschleppt werden. Das Schiff heißt MSC Napoli, und das passt natürlich irgendwie in eine Landschaft, wo es auch eine lange Tradition flexibler Auslegung von Recht und Gesetz gibt. Ein Teil der Ladung kippte ins Wasser und trieb an Land, und jetzt kann man auf einmal Bilder sehen, die wie ein Update der alten Piratengeschichten wirken: Eine Dutzendschaft von Leuten macht sich über die Kisten und Kästen her und nimmt mit, was mitzunehmen ist.

Und mitzunehmen gibt es einiges: Weinfässer, Autoersatzteile, fabrikneue BMW-Motorräder, möglicherweise allerdings auch hochgiftige Chemikalien. Die Polizei stand weitgehend tatenlos danehmen: Für die Motorräder zum Beispiel konnten einige der Plünderer Papiere vorweisen – wo immer sie die auch herhatten, aber wie gesagt, man hat da ja Erfahrung im Organisieren solcher Aktionen. Mittlerweile ist der Küstenabschnitt wohl gesperrt worden, was aber nicht viel bringen wird: Es gibt genug Schleichwege aus dem Hinterland, um an die entscheidenden Stellen zu kommen. Der Spiegel hat aus der Daily Mail eine Liste von Fundstücken, die mittlerweile bei Ebay aufgetaucht sind. (Für die anderswo aufgestellte Behauptung, auch ein Traktor sei angespült worden, hat der Spiegel allerdings wohl bei diesem Bild nicht genau hingeguckt: Da ist nur ein Spielzeugtraktor zu sehen.)

In den nächsten Tagen wird sich die ganze Geschichte wieder beruhigen, und die Gefahr einer Naturkatastrophe scheint wenigstens weitgehend abgewendet worden zu sein (wenn auch leider nicht ganz). Ich werde in diesem Jahr vermutlich auch wieder da in der Nähe vorbei kommen. Und dann gibt es ein paar Geschichten mehr zu erzählen, über die Schmuggler, die Plünderer und die Piraten von Devon.

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