Ein Sonntagnachmittagsausflugsidyll: Der Himmel leuchtet touristenprospektblau und es ist angenehm mild. Vom Atlantik schlendert nur eine leichte Brise vorbei, in etwa so gemütlich wie die Familien, die an der Küstenstraße entlang flanieren. Hier ist noch nicht viel los: Das Ausflugslokal und der Kiosk daneben wirken irgendwie vorläufig, die Kastanienverkäufer am Straßenhand plaudern über Fußball und in einem komischen, düsteren Markthalle stehen schlecht gelaunte Textilienhändler und warten noch vergeblich auf Kundschaft für ihren Ausschuss an Lederjacken und billigen T-Shirts. Ein paar Treppen führen hinunter zu einer Aussichtsplattform, von der aus man einen Blick auf die Steilküste werfen kann, und auf die tief eingeschnittene Kluft, die diesem Punkt hier ihren Namen gegeben hat: Boca do Inferno, Höllenschlund.
Man ahnt nur noch von ferne, wie dieser Punkt zu so einem dämonischen Namen kommen konnte. Der Atlantik wirft sich zwar noch mit Schwung gegen die rötlichen Felsen und zischt und rauscht auch ganz ordentlich. Aber in diesem idyllischen und domestizierten Umfeld klingt das eher so, als ob er nur seinem touristischen Auftrag gerecht werden möchte. Und man versteht gar nicht, wie ausgerechnet hier, an einem so milde infernalischen Ort, ein Mann wie Aleister Crowley auf die Idee kommen konnte, seinen Selbstmord zu inszenieren. Und eine sonderbare und skurrile Anekdote aufzuführen, die gar nicht so richtig zum Image eines Großmeisters des Magick passen will, sondern eher wie ein etwas alberner Streich wirkt. Immerhin war es ihm gelungen, Fernando Pessoa zum Mitmachen zu bringen.
Als Crowley hier war, im Sommer 1930, gab es die Aussichtsplattform natürlich noch nicht, schon gar nicht das Restaurant, den Kiosk und den Kleidermarkt. Und es gab auch nicht die kleine Steintafel, die am Treppenabgang zur Plattform angebracht ist, und auf der sich folgender Text findet:
Year I4. Sun in the Scales
L.G.P.
I cannot live without thee. The other Mouth of Hell will catch me. It will not be as hot as thine.
Hisos
Tu Li Yu
Das sind die Zeilen des Abschiedsbriefs, den Crowley auf den Felsen deponierte, sorgfältig unter seiner persönlichen Zigarettenschachtel platziert, um nicht davongeweht zu werden. Adressiert war der Brief an Hanni Jaeger, seine damalige Geliebte und „Scarlett Woman“, und zusätzlich zu den kryptischen Formulierungen war das Papier mit rätselhaften Symbolen übersät.
Crowley und Jaeger waren im August nach Portugal gereist. Warum, weiß man nicht genau, möglicherweise gab es ein paar Anhänger Crowleys dort, die von Meister Therion persönlich ein paar nette Rituale durchgeführt haben wollten. Jedenfalls verbrachten beide einige Zeit in Sintra, einer kleinen Sommerfrische in den Bergen unweit von Lissabon, wo sich auch die städtische Prominenz gerne aufhielt.
In Lissabon traf Crowley mit Pessoa zusammen. Korrespondiert hatten die beiden schon vorher, aus einem kuriosen Grund: Pessoas Interesse an okkulten und spiritistischen Dingen hatte ihn auf Crowleys Schriften stoßen lassen. Und, ganz akribischer Bücherwurm, hatte er einen Fehler in einem Horoskop entdeckt, das Crowley verfasst hatte. Einen Brief darüber schickte er nach England und bekam von Crowley eine freundliche Antwort.
Wie oft die beiden zusammen getroffen sind und was dabei diskutiert wurde, weiß man nicht so genau. Es gibt ein hübsches Bild, das die beiden in Pessoas Lieblingscafé, dem Brasileira, beim Schachspielen zeigt. Irgendwann im Verlauf einer solchen Partie wird Crowley vielleicht zum ersten Mal davon erzählt haben, dass er einen Selbstmord inszenieren wollte. Am 21. September jedenfalls notiert er in sein Tagebuch:
I decided to do a suicide stunt to annoy Hanni. Arrange details with Pessoa.
Mit Hanni hatte er sich nämlich kurz zuvor verkracht. Das war nichts Ungewöhnliches, Krach gab es zwischen den beiden öfter. Aber diesmal folgte auf den Streit keine Versöhnung, Hanni hatte ihn verlassen oder wollte zumindest weg. (Eine verlässliche Chronologie gibt es da nicht.) Crowley scheint das schwer getroffen zu haben: „I am quite in love with this Hanni“, hatte er kurz zuvor noch in sein Tagebuch geschrieben.
Es gibt aber, muss man an dieser Stelle einschieben, auch andere Spekulationen, nach denen die Geschichte mit Hanni nur der äußere Anlass war. Schon im Jahr davor soll er darüber spekuliert haben, wie er durch einen vorgetäuschten Selbstmord für Publicity und höhere Verkaufszahlen seiner Bücher sorgen könnte. Eine andere Vermutung ist, dass Crowley im ein oder anderen Hotel die Zeche geprellt haben könnte und durch seinen angeblichen Tod seinen Gläubigern davonkommen wollte.
Welche Details Crowley mit Pessoa arrangiert hat, auch darüber läßt sich bloß spekulieren. Hat Pessoa ihm vielleicht die passende Stelle geschildert und den Schlund der Hölle als den angemessenen Ort für den Selbstmord eines Meisters der schwarzen Magie ausgewiesen? In jedem Fall war Pessoa derjenige, der die Geschichte an die Presse gab. Und er erklärte den nachfragenden Journalisten bereitwillig die seltsamen Symbole und Abkürzungen auf der Abschiedsnotiz. Auch den merkwürdigen Namen „Tu Li Yu“ am Ende? Machte er daraus eines der mystischen Pseudonyme, mit denen sich Crowley schmückte? Oder den Namen eines chinesischen Weisen, dessen Reinkarnation Crowley sein wollte? Wußte er, dass Crowley da einfach eine neckische Abschiedsformel verballhornt hatte: Toodle-oo, so ein kleines Zwinkern aus den Zeilen.
Die Presse greift die Geschichte gerne auf: Crowley ist zwar keine große Berühmtheit, aber als satanische Skandalnudel, die dem zeitungslesenden Bürgertum ein paar gruselige Schauer über den Rücken jagt, taugt er doch. Und damit ist die Geschichte auch eigentlich zu Ende, denn zu einer richtigen Pointe will es nicht kommen. Schon kurz nach seinem angeblichen Selbstmord war Crowley nach Deutschland abgereist, und Hanni mit ihm. Pessoa meldet am 1. Oktober per Telegramm brav Vollzug:
Letter cigarette case identified Crowley’s discovered evening 25th place coast Mouth Hell police investgating doubt suicide though nothing definite ascertained.
Und damit scheint der Kontakt zwischen den beiden auch weitgehend beendet Vielleicht war Pessoa die ganze Geschichte anschließend auch peinlich, zumal sich Crowley in Deutschland keine besondere Mühe gegeben zu haben scheint, das Spielchen weiter zu treiben. Vielleicht war dem stillen Intellektuellen Pessoa das Schillernde und Inszenierte an der Persönlichkeit Crowleys auch einfach zu viel. Immerhin erscheint 1931 noch die portugiesische Übersetzung eines Gedichts von Crowley, Hino a Pa, im Gedichtband Presença.
Von all dem ahnen die braven Ausflügler nichts, die Erinnerungstafel an der Treppe bemerkt kaum jemand. Wer hat sie da angebracht? Wem war diese skurrile Anekdote eine Steintafel mit gußeisernen Buchstaben wert? Ist das so ein kleines Memento, dass auch Dichter und Gurus gerne mal alberne Momente haben? Dann ist so ein touristischer Tummelplatz vielleicht sogar der beste Platz dafür. Und da meine ich, im Rauschen des Atlantik auch ein leises Kichern zu hören.
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