Passiert mir selten, dass ich aus einem Theaterstück komme und gleich das Buch dazu haben möchte. Noch dazu, wenn das Stück in Mundart geschrieben ist. Aber das Juramareili von Paul Haller ist eine Entdeckung: Ein ganz wunderbarer Text, ein düsterer und kräftiger Totentanz aus der Schweizer Provinz, aufgeführt in einem tausend Verse langen Epos im Aargauer Dialekt. Wiederentdeckt hat ihn die Aarauer Gruppe Szenart und in einer ebenso schönen Aufführung auf die Bühne gebracht, aber dazu gleich.
Es geht auf Leben und Tod in diesem Stück, aber gelebt und gestorben wird in armseligen und unspektakulären Verhältnissen. Ein Vater kommt ins Gefängnis, eine Mutter stirbt an der Schwindsucht, eine überforderte Kusine nimmt Marie und ihre Schwester auf. Marie versucht einen kleinen Anlauf, um aus der Armseligkeit ihres Lebens auszubrechen, aber sie kommt nicht viel weiter als bis zu einer Bürgersfamilie in der Welschschweiz. Dort muss sie wieder gehen, als sie krank wird, und so versinkt ihr Leben wieder in Banalität und Glanzlosigkeit. Nicht mal ein echtes Liebesdrama gönnt ihr das Schicksal: Der flotte Tänzer, der es ihr angetan hat, taucht einfach nicht mehr auf. Stattdessen kommt der Vater zurück und will die Töchter wieder zu sich nehmen, aber nicht mal daraus entfaltet sich ein echter Konflikt, es ist nur die Randale eine prahlerischen Säufers. Am Ende sind trotzdem zwei Menschen tod: Der Vater geht ins Wasser, Marie stirbt am Blutsturz, und beide Tode folgen keiner übergeordneten (und vielleicht tröstenden) Logik, sondern sie stehen nur für die Hilflosigkeit und Kommunikationsunfähigkeit der Protagonisten.
Armut bedeutet nicht nur, dass das Leben einem materiellee Dinge vorenthält, sondern auch Pathos, Glanz und Größe. Sie recken sich ein bißchen, die Protagonisten in Hallers Stück, sie machen ein paar Dehnübungen, um aus dem Elend auszubrechen, aber sie sacken auch schnell wieder in sich zusammen. Haller schreibt das alles auf, und er will, hat man das Gefühl, alles mögliche in seinem Schreiben versöhnen: Er will seinen Figuren ein bißchen von dem Pathos gönnen, das ihnen vom Leben vorenthalten wird, und zugleich will er so nüchtern und präzise wie möglich diagnostizieren, was das Elend mit den Menschen macht. Er schreibt im Dialekt, um eine authentische und unmittelbare Stimme zu finden, und zwingt doch alles in gebundene Verse und strenge Form. Er malt die Natur, als ob er durch die Kulisse dem haltlosen Dahintreiben seiner Protagonisten einen Sinn unterschieben könnte, aber wenn am Schluss ein Lichtstrahl auf die Begräbnisgesellschaft fällt, die Marie zu Grabe trägt, dann weiß man nicht, ob das himmlische Sympathie ist oder das zynische Zwinkern Gottes: Nicht mal mehr im Scheitern ist Trost.
Der Text lebt aus diesen unversöhnten Gegensätzen, aus dem Blick in den dörflichen Mikrokosmos und dem Versuch, darin eine kosmische Ordnung zu erkennen. Mich hat es nicht wenig an einen anderes großes alemannisches Epos erinnert: An Hebels nachtschwarzes Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn über die Vergänglichkeit. Aber Hebel will noch in der Katastrophe die göttliche Fügung erkennen; bei Haller läuft eine Maschinerie, von der man nicht weiß, ob sie einer inneren Logik folgt oder bloß einer Mechanik.
Dass der Text soviel Kraft entfalten kann, liegt auch an der Inszenierung. Die gibt sich sehr minimalistisch und zurückhaltend: Zwei Schauspielerinnen und ein Schauspieler lesen abwechselnd den Text, spielen mit und in den Figuren und den Wörtern, aber vorsichtig und behutsam, als hätten sie Angst, zuviel Gewicht darauf zu legen und dadurch das innere Momentum auszubremsen. Statt einer Kulisse gibt es nur einen offenen Raum, Lampenschirme liegen auf dem Boden und müssen von den Schauspielern selbst an den herabhängenden Halterungen befestigt werden, um zumindest ein bißchen Glanz in den Raum zu bekommen. Es ist eine sauber gearbeitete und genaue Inszenierung, und ich behaupte mal, selbst wenn man den Text nicht versteht – wie es dem Großteil des kleinen Publikums in der Kölner Feuerwache gegangen ist -, dann kann man immer noch der Musikalität und Genauigkeit dieser Moritat folgen.
Ich habe mir jedenfalls am selben Abend noch einen Band mit Haller-Texten bestellt. Davon will ich mehr lesen.
Foto: Bernhard Fuchs
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