In Arno Schmidts Tina ist das Elysium eine Hölle der unendlichen Dauer: Jeder Mensch ist zum ewigen Leben verdammt, so lange sich noch eine Spur von ihm auf Erden findet – ein Buch, ein Brief, die Nennung des Namens in einer Akte. Erst wenn auch die letzte Notiz getilgt und vernichtet ist, darf sich die müde Seele ins ewige Nichts auflösen.
In dieser Welt wird man mit Horror hören, was die British Library in Yorkshire plant: Den Bau einer gigantischen Lagerhalle, die Platz für sieben Millionen Objekte bieten soll. Vor allem „nil to low use material“: Publikationen, die so selten genutzt werden, dass die Lagerung in London zu teuer kommt. Gelagert werden muss das Material aber: Es ist schließlich der Auftrag der British Library, das nationale Schrifttum zu dokumentieren, zu sammeln und vorzuhalten. Das Gedächtnis der Nation darf nicht vergessen: Selbst das Triviale, das Flüchtige und das Ungehörte müssen darin aufbewahrt werden, denn wer kann heute schon wissen, aus welchen Details sich zukünftige Generationen das Mosaik unserer Zeit zusammensetzen wollen?
Ein Auftrag, der freilich einige logistische Anforderungen stellt: Denn die Nachrichten vom Tod des Buches sind stark übertrieben. Um alles das aufzubewahren, was im Laufe eines Jahres in Großbritannien gedruckt und verlegt wird, muss die British Library jährlich 12,5 zusätzliche Kilometer Regalbrett bereitstellen. (Und das bei den Immobilienpreisen in London, ichbittsie.) Darum nun der Bau dieser riesigen Halle auf der grünen Wiese, in Boston Spa bei Leeds (wo die British Library schon seit einigen Jahrzehnten ihre Außenstelle für Fernleihe betreibt). Da entsteht nun das Hi-Tech-Mausoleum für die Dokumente, die kaum jemand lesen möchte. Ein Grabmal für die ungeliebten Bücher und Periodika, die vielleicht irgendwann mal durch die Hand eines zukünftigen Archäologen aus ihren vakuumverpackten und säuregeschützten Sarkophagen auferstehen werden.
Aber natürlich lagert dort dann nicht nur obskures Zeug, selbstverlegte Lyrikbändchen eines poetisch irrlichternden Dorfschulmeisterleins, ungelesene Autobiographien von Pop-Stars, die nie welche waren, oder heilige Schriften irgendwelcher Privatkulte. „Nil or low use“ sind auch Objekte, die von der Aktualität überholt wurden: Fernsehzeitschriften, Stadtmagazine, Handbücher.
Soll man wirklich alles aufbewahren, fragt der Guardian. Kann die Erinnerung einer Gesellschaft nicht auch in Langzeit- und Kurzzeitgedächtnisse unterteilt werden. Wo kommt man hin, wenn einen selbst das Ephemere nicht mehr vor der Unsterblichkeit rettet? Einmal ein Praktikum bei einem Stadtmagazin gemacht und ein paar Daten für den Terminkalender zusammengeschmissen, schon ist man für immer gefangen in der ewigen Langeweile des Elysiums.
Keine Ahnung. Ich treib mich ja selbst gerne in abgelegenen literarischen und dokumentarischen Gefilden herum, und die Vorstellung, einmal so ein Dead Letter Office des zeitgenössischen Schreibens aufzusuchen, hat etwas Gruseliges und Faszinierendes, die wahrscheinlich nur jemand nachempfinden kann, der seinen Kopf auch schon mal länger als für fünf Minuten in ein Anekdotenbuch aus Olims Zeiten oder in statistische Annalen einer mitteleuropäischen Großstadt des 19. Jahrhunderts gesteckt hat. Und den Bartlebys, die dieses Universum der Nichtigkeit verwalten werden, zolle ich schon mal meinen Respekt und ein bißchen Neid.
In Schmidts Unterwelt steht ein Denkmal: Gewidmet dem Brandstifter der Bibliothek von Alexandria, für sein großes Werk der Befreiung tausender verdammter Seelen. Ich frage mich, was passiert, wenn die Lagerhalle in Leeds eröffnet wird. Ich sehe schon Horden von Untoten, die durch die Straßen von Leeds ziehen, mit Fackeln in der Hand und wütende Flüche ausstoßend auf die herzlosen Bibliothekare und Archivare, die ihnen das Vergessen nicht gönnen wollen. Nur weil sie einmal im Leben die Dummheit gemacht haben, etwas aufzuschreiben und zu veröffentlichen: Denn das Wort ward Material und das Material will gesammelt werden.
(Via Bldgblg, dort auch der Link zu diesem lesenswerten Artikel im New Yorker.)
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