Bücher aus der Hölle


Cheval de Berkly

Bisweilen spinnt die Aktualität einen Faden weiter, den man selbst erst aufgenommen hat: Während die British Library eine Lagerhalle für ungeliebte Bücher baut, öffnet die Bibliothèque nationale die Pforten der Hölle: L’enfer du bibliothèque, Eros au secret heißt eine Ausstellung, die dort heute beginnt und bis zum kommenden März dauert.

Eine Nationalbibliothek muss ja nicht nur die Bücher archivieren, die keiner mehr lesen will, sondern auch die, die keiner lesen soll: Die obszönen, pornografischen, sittlich bedenklichen Werke, die nur von moralisch sattelfesten Personen oder solchen mit rein wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse eingesehen werden dürfen. (Es wird gemeinhin davon ausgegangen, dass das eine mit dem anderen identisch ist.)

In der Bibliothèque nationale trägt der Fundus dieser Werke den plakativen Namen l’enfer (und die Bücher, die dort landen, auch tatsächlich die entsprechende Sigle: ENFER-). In der deutschen Wikipedia findet sich ein lesenswerter Artikel über die Entstehung dieser bibliothekarischen Hölle, der auch die paradoxe Konsequenz dieser Einrichtung beleuchtet, nämlich dass der Akt des Wegschließens das öffentliche Interesse eher beflügelt hat. Je nach Blickwinkel mochte der Enfer als Gefängnis oder als Geheimkabinett erscheinen, jedenfalls als Projektionsfläche, in dem alle möglichen Lüste und Phantasien verfügbar waren. Anders ist es nicht zu verstehen, dass schon einfache Literaturverzeichnisse, die nur den Bestand des Enfer auflisteten, zu Bestsellern werden konnten. (Eines stammte von Apollinaire.)

Ob die Ausstellung in Paris dazu beiträgt, einen neuen Blick auf die Genese der bürgerlichen Moral zu werfen und besser zu verstehen, warum nicht mehr das Ketzerische, sondern das Obszöne verfolgt wurde, kann ich nicht sagen . Immerhin spannt sie den Bogen weit: Die Exponate reichen von den Anfängen des Fundus im 19. Jahrhundert bis in die Sechziger Jahre, als sich die gesellschaftliche Einstellung zur Pornografie wandelte, und damit auch die öffentliche Verfügbarkeit des Materials und die Funktion der Hölle. Es gibt sie bis heute, und sie wird – nach einer Unterbrechung in den Siebziger Jahren – auch weiterhin kontinuierlich befüllt. Gesammelt werden dort immer noch vor allem Erotika, das sind dann aber meist besonders seltene, kostbare oder aus thematischen Gesichtspunkten besonders relevante Werke. (Und so findet sich z.B. unter der Sigle ENFER-2532 auch ein Band namens Vergänglichkeit der Schönheit mit Gedichten von Gryphius, Hoffmannswaldau und Dach.) Um’s mit der Wikipedia zu sagen: Ging es früher darum, die Öffentlichkeit vor unmoralischen Büchern zu schützen, geht es heute darum, kostbare Bücher vor zu intensiver Nachfrage zu bewahren.

Informationen zur Ausstellung gibt es bei Le Monde und El País.

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