Über die Toten soll man nichts Schlechtes sagen. Es sei denn, man hat das Talent dazu. Dann aber hat man auch die Verpflichtung, zu erzählen, und dem Tod nicht zu gestatten, dem Verstorbenen außer seinem Leben auch noch seine Geschichte zu rauben.
Bei uns verschwindet der Tod meistens in der Beiläufigkeit des Feuilletons, wenn er nicht grade an ein großes Ereignis geknüpft ist, und wird irgendwo zwischen Theaterkritiken und Buchbesprechungen versteckt. Oder man überlässt ihn der Anzeigenredaktion, und es bleibt dann dem Betrachter überlassen, sich die Dramen auszudenken, die sich zwischen den Jahreszahlen, in der Auflistung der buckligen Verwandschaft, hinter dem ausgewählten Aphorismus verbergen mögen.
In England ist das anders. Die großen Tageszeitungen haben dem Tod allesamt eine eigene Rubrik eingeräumt: Die Obituaries sind ein fester und unverzichtbarer Bestandteil, und ihre Aufgabe ist nicht nur die Protokollierung des Ablebens, sondern die Nacherzählung des Lebens davor. Und die kann auch schon mal respektlos und despektierlich sein, und von den Eigenschaften, die den Verstorbenen ausmachten, die pikantesten, bizarrsten oder zweifelhaftesten ausstellen. Hauptsache, sie lassen sich gut erzählen, als ob die Erzählung nicht den Toten, sondern das Leben an sich feiern soll und die anekdotische Vielfalt, die in ihm möglich ist. Darin liegt etwas von einem archaischen Ritual, so wie der Leichenschmaus auch die Funktion hat, dem Tod wenigstens dadurch etwas Paroli zu bieten, dass man es sich in seinem Angesicht ein bißchen wohl sein lässt.
Die Obituaries sind also, scheint’s, eine urbritische Institution, ein weiterer Beleg für die ach so putzige Schrulligkeit und Schwarzhumorigkeit des treetrinkenden Inselvölkchens. Um so überraschter war ich jetzt, zu erfahren, dass die Nachrufe, in der Form, wie man sie heute in den britischen Zeitungen antrifft, gar nicht so alt sind. Nicht älter, um genau zu sein, als meine Kenntnis davon: Mitte der Achtziger, als sich meine Englischkenntnisse sattelfest genug anfühlten, begann ich damit, ab und an englische Zeitungen im Original zu lesen. Die Obituaries waren, mit ihrer seltsamen Auflistung tatsächlicher und herbeizitierter Prominenz, mit ihrer Mischung aus Beredsamkeit und Redseligkeit, aus Dezenz und Defätismus, eine bizarre, aber immer gern genossene Leseerfahrung.
Dass es sie in dieser Form im Grunde auch erst seit dieser Zeit gibt, habe ich – wie passend – durch einen Nachruf erfahren. Denn der Großmeister des literarischen Nachrufs ist vor wenigen Tagen verstorben: Hugh Massingberd. 1986 machte ihn der Daily Telegraph zum Chefredakteur der Obituaries, mit dem dezidierten Auftrag, die Rubrik aufzuwerten und ihr mehr Profil zu verschaffen.
Kein uninteressantes Datum nebenbei: 1986 sind wir mittendrin im Kampf um die Lufthoheit über den konservativen Köpfen des Landes (und ihren Frühstückstischen) – vier Jahre zuvor hatte Murdoch die Times aufgekauft, der Independent startete im Herbst. Und wir sind mittendrin in der Thatcher-Ära und ihren Versuchen, Konservatismus als neue Kraft zu inszenieren. Nachrufe sind da natürlich nur ein Nebenschauplatz, aber kein ganz unbedeutender: Denn welche Toten eine Nation verehrt und wie ihrer gedacht wird, sagt einiges über das Bild, das sie von sich selbst macht.
Es ist also sicher nicht ganz zufällig, dass man beim Telegraph dieser Rubrik mehr Aufmerksamkeit zuwenden wollte. Massingberd muss als ein idealer Kandidat erschienen sein, um diesen Job zu übernehmen. Er war ein Kenner (und Fan) der englischen Gentry, hatte lange für den Adelskalender Burke’s Peerage gearbeitet und Bücher über englische Landsitze veröffentlicht. Und er ist, glaubt man seinen Nachrufern, selbst ein Engländer gewesen, wie er im Bilderbuch steht: Sproß einer kleinadligen Familie, schüchterner Autodidakt, Reiter diverser Steckenpferdchen, belesen und bewandert: „there was no one of his generation who knew more about England and English life“, ruft ihm der Telegraph hinterher: „from country houses to television soap operas, from the works of Anthony Powell to the odds at Wincanton, from the Royal Family to West End musicals“.
Was für ein beschauliches Szenario: Ein Großbritannien, das zwischen Landhäusern und Seifenopern Platz findet. Ein Idyll, das sich auf den ersten Blick auch in den Nachrufen zu spiegeln scheint: Da wimmelt es, neben aller Prominenz, auch von peripheren Persönlichkeiten, den Sirs und Ladys Fortescue-Buddingthorpe, oder den bis zu ihrem Nachruf meist unbekannten Fliegerhelden des zweiten Weltkriegs (intern „Moustaches“ getauft), die das Maß an Tapferkeit beisteuern, auf das man in der Falkland-Farce verzichten musste.
Natürlich findet auch die Weltpolitik Eingang in die Nachrufseiten. Und es ist Massingberds Verdienst, dass er bei aller Betulichkeit das Idyll auf britische Art und Weise erledigt. Er war ein Bewunderer John Aubreys, Verfasser der Brief Lives, und dieses Meisterwerk einer beiläufigen Biographistik lieferten ihm das Modell, nach dem er die Rubrik gestalten wollte. Zu den britischen Tugenden, die er in seiner Kolumne feierte – theoretisch wie praktisch – gehörten auch Liebe zum Detail und zur Exzentrizität. Und die Grundeigenschaft jedes Engländers von echtem Schrot und Korn, nämlich sich eher von kannibalischen Wilden in einem Topf schmoren zu lassen als auf das Erzählen einer prima Anekdote zu verzichten.
Massingberd (und sein meist anonym bleibender Stab an Redakteuren) sparten kaum etwas aus, was erzählenswert war – auch wenn das Endprodukt auf eine komplette Demontage des seligen Verstorbenen hinauslief. Das machte die Nachrufe für die Nachwelt oft zum großen Lesevergnügen – Etwa wenn dem „dritten Lord Moynihan“ nachgerufen wurde:
[He] provided through his character and career ample ammunition for critics of the hereditary principle. His chief occupations were bongo drummer, confidence trickster, brothel-keeper, drug-smuggler and police informer.
Ein anderer Blaublüter, der „siebte Duke von Montrose“, machte sich dadurch unsterblich, dass er einen rhodesischen Untersuchungskommission Einblick in die schwarze Psychologie lieferte:
„It is a common observation that the African is a bright and promising little fellow up till the age of puberty,” was his considered opinion submitted to an official enquiry. “He then becomes hopelessly inadequate and disappointing, and it is well known that this is due to his almost total obsession henceforth with matters of sex”.
Und von Fanny Cradock – der Mutter aller Fernsehköche – wußte der Nachruf zu berichten:
In 1983 she was prosecuted for dangerous driving. She had swerved across her lane and caused a collision. When the other driver tried to talk to her she said, “How dare you hit my car” and drove off. The other driver followed her for 15 miles. He finally overtook her and stood in front of her car waving her down.
Mrs Cradock proceeded to run him over.
Massingberd, könnte man sagen, war ein Morrissey des Nachrufs: Ein nostalgischer Schwärmer, der in der emphatischen Akklamation von Skurrilität und Weirdness mehr über das Ende des Empires erzählte als so mancher analytische Text. Davon kann man sich übrigens auch in zahlreichen Nachruf-Anthologien überzeugen, die meist von Massingberd selbst herausgegeben wurden. Wobei man einschränkend hinzufügen muss: Nicht alle Texte darin (und nicht alle oben angeführten Zitate) müssen aus seiner Feder stammen – unter ihm waltete ein Stab meist anonym bleibender Redakteure. Aber Massingberd verstand es, wie sonst nur ein Rudolf Augstein, einen Genios vorzugeben, dem das Team konsequent folgte. Und sein Beispiel machte Schule: Auch in der Times, im Guardian und im Independent gehören die Obituaries schon lange zu den lesenswertesten Rubriken, wenn auch nicht immer mit der gleichen defätistischen Brillianz, die den Telegraph auszeichnete.
Massingberds Regentschaft dauerte übrigens bis 1994. Dann gab er den Posten auf. Nicht ganz freiwillig, sondern eher aus gesundheitlichen Gründen: Die Beschäftigung mit dem Tod war ihm zu stressig geworden.
(Nebenbei und à propos „Morrissey des Nachrufs“: 1986, das Jahr von Massingberds Amtsantritt, ist natürlich auch das Jahr, in dem die Smiths ihr Chef d’oeuvre veröffentlichen und es The Queen Is Dead nennen. Die Massingberds des Pop, fürwahr.)
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