Der Turm der Apokalypse


Tour de Eben-Ezer

Da nahm Samuel einen Stein und setzte ihn zwischen Mizpa und Sen und hieß ihn Eben-Ezer und sprach: Bis hierher hat uns der Herr geholfen.
– 1. Samuel 7, 12

Wie nun der Hirte sah, daß der Turm im Bau gar wohl gelungen war, zeigte er sich hocherfreut; er war nämlich so gebaut, daß mich bei seinem Anblick Sehnsucht erfaßte, in ihm zu wohnen; er war nämlich so gebaut, wie wenn er aus einem einzigen Stein und zu einem Stück zusammengefügt wäre; es machte den Eindruck, als ob der Stein aus dem Felsen herausgehauen wäre; mir schien er aus einem Steine zu sein.
Der Hirte des Hermas

… die Schwierigkeit des Zusammenlebens mit Menschen habe für ihn immer darin bestanden, daß er immer vieles hörte und vieles sah, die anderen aber nichts hörten und nichts sahen, und in der Unmöglichkeit, die Menschen, gleich welcher Kategorie, in Hören und Sehen einzuschulen.

– Thomas Bernhard, Das Kalkwerk

Ein Neues Jerusalem mitten zwischen Steinbrüchen und Mergelgruben: Der Turm von Eben-Ezer ist eine architektonische Extravaganz und eine bauliche Bizarrerie, aufgetürmt aus Zement und Feuersteinen und gekrönt von vier überdimensionierten apokalyptischen Cherubinen. Von weitem mag der Turm aussehen wie eine Ritterburg aus einem Comic, oder wie die Kulisse zu einem kruden Horror-B-Movie. Gedacht war er aber als pazifistisches Monument und Mahnmal der Apokalypse.

Erbaut hat das Ganze ein Mann namens Robert Garcet, erst Steinhauer, später Eigentümer der Silexgrube, an deren Rand der Turm heute steht. Einer, der die Eingeweide der Erde durchwühlte und der aus den sonderbar geformten Feuersteine die Geheimnisse der Geschichte herauslesen wollte und im Selbststudium mit den Prophezeiungen der Offenbarung und anderer apokalyptischer Schriften verglich.

Der Name des Turms ist nicht nur eine biblische Referenz, sondern auch ein Verweis auf eine weitere bauliche Monströsität, die sich nur ein paar Kilometer weiter nördlich befindet: Das Fort Eben-Emael, ein auf 75 Hektar untertunneltes und bewaffnetes Bergmassiv. Das Fort war das modernste und größte seiner Zeit, ein als unbezwingbar geltender Behemoth – der doch bei seiner einzigen Bewährungsprobe kläglich scheiterte: Fast im Handstreich (und unter Einsatz von Segelfliegern) eroberten die deutschen Truppen den Komplex.

Tour de Eben-Ezer

Man ist hier, wo die Ardennen in die nordeuropäische Tiefebene auslaufen, nahe genug an den Schlachtfeldern der großen Kriege, um das Ende der Welt nur für eine Frage der Zeit zu halten. Und auch in Friedenszeiten wurde hier fleißig an der Landschaft herumgebastelt; ganze Berge versetzt, abgetragen, ausgehöhlt oder weggesprengt. Zum Beispiel, um den Albert-Kanal anzulegen, der im Schutze des Forts von der Maas abzweigt und auf dem die belgischen Frachter zur Nordsee schippern konnten, ohne durch die Niederlande fahren zu müssen. Wenn man sich von Osten dem Tal der Maas nähert, etwa auf der Höhe des Städtchen Visé, dann sieht man schon von weitem die käsekuchenfarbenen Steilhänge der Steinbrüche und die grauen Türme der Zementfabriken.

Tour de Eben-Ezer

Da paßt es ganz gut, dass auch Garcets Turm, wenn man sich ihm nähert, wie ein fließendes Gebäude wirkt: Die seltsamen Formen des Silex-Gesteins lassen ihn aussehen, als ob er aus einem weichen, knetbaren Material geformt ist. Die Steine scheinen an seiner Außenwand herunter zu tropfen, als ob sie vom Gewicht der Comic-Cherubine auf den Zinnen niedergepreßt würden, oder überquellen von den seltsamen und verborgenen Botschaften, die Garcet aus seinen Büchern und Steinen herauslas.

Die Maße des Turmes hat Garcet, ganz nach dem Vorbild Dantes, von den Zahlen der Apokalypse bezogen. 33 Meter ist Eben-Ezer hoch, sieben Stockwerke hat das Gebäude, fünf oberirdisch, zwei unterirdisch, jedes 12 Quadratmeter groß. Vor dem Eingang befindet sich ein Steinkreis mit zwölf Säulen, die jeweils 3,33 Meter voneinander entfernt sind. Das Erdgeschoss, die „Halle der Cherubine“, wirkt mit ihrem bunten Gewimmel aus himmlischen und höllischen Figuren, apokalyptischen Zahlen und Symbolen wie eine Kreuzung aus Geisterbahn, Gothic-Kitsch und Immendorff-Bibel.

Es heißt, dass sich in den unteren Geschossen des Turmes der Eingang zu einem weitläufigen Labyrinth unterirdischer Gänge befindet. Einige dieser Gänge sollen mehrere Kilometer lang sein – Reste alter Steinbrüche, aber vielleicht auch von Schmuggelrouten oder sonstigen Verstecken. Oder die Überbleibsel versunkener, Lovecraft’scher Welten, wer weiß.

Tour de Eben-Ezer

Wer’s selbst in Augenschein nehmen möchte: Der Turm ist regelmäßig geöffnet. Zur Besichtigung gehört auch der alte Steinbruch unterhalb des Turms, heute ein weitläufiger Park – kein gepflegter Landschaftsgarten, sondern ein kleines Wäldchen mit verschlungenen Wegen, in dem öfter mal Ausstellungen lokaler Künstler stattfinden.

Eine kurze Biographie von Garcet findet sich hier. Beim Institut National de l’Audiovisuel gibt es einen kurzen Filmbeitrag über Garcet und seinen Turm (beides auf französisch).

Eine Antwort

  1. Wunderbar formuliert – habe Ihre Seite direkt einmal verlinkt.

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