Nach Deutschland fährt man nicht ungestraft.
Wie war es, fragt F., als ich nach Hause komme. Tja, sage ich, so eine Lesung habe ich noch nie erlebt. Da muß ich erst mal drüber nachdenken, wie das war.
Erst gab es eine E-Mail von Paul: „Am Dienstag begleite ich mit einen Kontrabassisten eine Lesung von Andrzej Stasiuk im Literaturhaus. Vielleicht hast du Lust, vorbei zu kommen.“ Selbstverständlich habe ich Lust. Pauls Musik höre ich gerne. Was polnische Literatur angeht, bin ich leider fast völliger Ignorant, also kann ich mit Stasiuks Namen nicht wirklich was anfangen, aber das macht ja nichts. Ich nehme mir zwar in unregelmäßigen Abständen immer wieder vor, diese spezielle Ignoranz zu beenden, ohne den guten Vorsatz wirklich umzusetzen. Dafür schäme ich mich dann immer ein bißchen, weil das doch ärgerlich ist, dass man so wenig weiß über Polen und seine Literatur.
Zum Glück kann man vorab ein bißchen im Internet herumstromern. Ein Suhrkamp-Autor also, aha, auf dem Porträtfoto sieht er ein bisschen aus wie eine Mischung aus Jack Kerouac und Eckhard Henscheid. Der Klappentext zu seinem aktuellen Buch ist auch zu finden, Dojczland heißt es, und es geht darin, sagt der Klappentext, um einen
literarischen Gastarbeiter auf Lesereise kreuz und quer durch die Bundesrepublik, [und der] verbirgt nicht, daß er lieber auf dem Bukarester Gara de Nord als am Stuttgarter Hauptbahnhof angekommen wäre.
Der letzte Halbsatz ist, muss ich hier schon mal einschieben, völliger Unfug. Die betreffende Stelle kommt gleich am Anfang des Texts, und der deutsche und der rumänische Bahnhof haben da eine sehr viel doppelbödigere Beziehung: „Ich mußte in Stuttgart an Bukarest denken, um mir Deutschland besser merken zu können“. Es wird sich zeigen, dass es beim Lesen von Stasiuk offenbar häufig zu solchen Mißverständnissen kommt. Zunächst fällt mir aber vor allem der nächste Satz im Klappentext auf: Stasiuk spiele, heisst es da,
so selbstironisch mit Ängsten, Vorurteilen und Klischees, den eigenen, den fremden, daß ihn ein polnisches Skandalmagazin als »bezahlten Einflußagenten Berlins« anprangerte.
Puh, denke ich, das ist aber mal was, dass Suhrkamp mit einem „polnischen Skandalmagazin“ im Klappentext wirbt. Und dieses augenzwinkernde Schäkern damit, dass hier jemand für seine angebliche Deutschen-Sympathie angeschmiert wird – also ich weiß nicht. Glücklicherweise gibt es noch ein paar andere, deutlich vielschichtigere Informationen im Netz, und was ich da lesen kann, macht mich ausreichend neugierig, außerdem hat die Wikipedia ein Foto, auf dem er mit einem sehr freundlichen Gesichtsausdruck neben einem Glas Wein sitzt. Ich nehme mir also fest vor, hinzugehen. Und der Vorsatz bleibt auch, als Paul ein paar Tage später schreibt, dass das Literaturhaus leider keine Musik möchte.
Das Literaturhaus Köln ist in der Schönhauser Straße, was mir zum Glück noch rechtzeitig einfällt, ich hatte es anfangs noch im Media-Park in Erinnerung und mich auf den kurzen Weg von meinem Büro gefreut. Es ist eiskalt, als ich an der Straßenbahnhaltestelle aussteige. Gegenüber vom Literaturhaus ist eine riesige Baustelle, auf der ein Bürokomplex gebaut wird oder ein Parkhaus, so genau kann man das noch nicht erkennen. Die Baustelle ist taghell erleuchtet, und möglicherweise roboten dort auch einige Landsleute von Stasiuk vor sich hin.
… aber wie ich schon sagte, dieser Bericht ist voller Vorurteile, und ich habe nicht vor, das zu verbergen.
Als Stasiuk eintrifft, kann ich mir den Gedanken nicht verkneifen, dass er so aussieht, als ob er tatsächlich eben noch nebenan auf dem Bau gearbeitet habe. Er wirkt groß und kräftig, trägt eine einfache Lederjacke, T-Shirt und Jeans, scheint etwas erschöpft und sieht älter aus als er ist. (Das wird nach der Veranstaltung eine Zuhörerin sagen, ich bin zu höflich, so was zu denken.)
Im Literaturhaus ist für die Lesung eine Art Nische unter einer Treppe vorgesehen. Der Platz ist relativ eng, und das wird wohl der Grund sein, warum die Musik dazu ausfällt. Paul ist auch schon da und schwärmt mir von den zwei Auftritten mit Stasiuk vor. Großartig sei das gewesen, es sei genau das aufgegangen, was er und Achim, der Kontrabassist sich vorgenommen hätten. Leider gebe es keine Aufzeichnungen davon, aber wer weiß, vielleicht mal eine gemeinsame Platte.
Einer der Veranstalter tritt auf die Bühne und versucht eine launige Einführung. Der Hinweis, im Polnischen gebe es kein Wort für „Gemütlichkeit“ wird allerdings gleich von einer jungen Polin aus der ersten Reihe korrigiert. Dann zitiert er ein kurzes Stück aus dem Buch, in dem Köln vorkommt und eine große Ratte, die Stasiuk vor dem Dom gesehen haben will. Köln käme im Vergleich mit anderen Städten noch schmeichelhaft weg, behauptet der Veranstalter. (Auch das übrigens eine Behauptung, die sich bei näherem Betrachten als Unfug erweist.)
Schließlich nehmen Stasiuk und Olaf Kühl, sein Übersetzer, am Lesetisch Platz. Stasiuk sagt etwas, er hat eine angenehme Stimme und die polnische Mélange aus Gleiten, Singen und Zischen mag ich sowieso. Kein Wunder, dass aus Polen so viele gute Jazzer kommen, wenn man schon über eine Sprache verfügt, die klingt wie das Solo eines Holzblasinstrumentes. Das Buch ist auch zum Lachen gedacht, also lachen Sie bitte, dolmetscht Kühl, und man soll auch bitte direkt fragen oder kritisieren. Bei den anderen Veranstaltungen sei das Publikum nur brav dagesessen und habe dann hinterher genörgelt, und das sei doch ein bißchen doof.
Kühl liest ein paar Passagen vom Anfang des Buchs, angenehm plaudernde und leicht elegische Miniaturen von Bahnhöfen, Whisky und Hotelzimmern. Ich mag diesen Ton auf Anhieb, die Mischung aus Amüsiertheit, Melancholie und ethnologischem Interesse. So geht es einem, wenn man auf Bahnsteigen oder an Hotelzimmerfenstern in fremden Städten steht und sich umguckt.
Wenn du wirkliche Einsamkeit erleben willst, mußt du nach Deutschland fahren. Du mußt fünfzehnmal mit der Bahn die Strecke zwischen Frankfurt und Köln zurücklegen und mitten in der Nacht in Hamm im siebten Stock eines Hotels mit goldbeschlagenen Thekenund Geländerstangen aufwachen. Und mitten in der Nacht in die Dunkelheit hinausschauen und dort, in ihrer Tiefe, die Lichter von zwei großen Kirchtürmen ausmachen, die sich am Morgen als Industriebauwerke herausstellen. Und man muß in Krefeld, in Hagen und in Duisburg gewesen sein, damit einem der Bahnhof in Stuttgart Linderung verschafft, weil er an den Gara de Nord erinnert.
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Stasiuk scheint noch guter Laune, er macht ein paar Faxen, während Kühl liest, dirigiert den Takt der Ortsnamen und grinst ins Publikum.
Dann beginnt alles aus dem Ruder zu laufen.
Man könne die Lesung ja hier mal unterbrechen, schlägt Kühl vor, um Fragen zuzulassen. Das ist das Signal für einen älteren Herrn zu einem Generalangriff: Er habe hier nichts Lustiges wahrnehmen können, der Text stehe für ein 30 Jahre altes Bild von Deutschland, das er bestenfalls noch Stasiuks Vater zugetraut hätte, „aber nicht jemandem, der so jung ist wie sie“. Außerdem fahre er seit Jahren nach Polen, und da denke man ganz anders über die Deutschen. Das ruft einige weitere Zuhörer auf den Plan, die offenbar wild entschlossen sind, Stasiuks Anmerkungen zu Deutschland persönlich zu nehmen. Am meisten verblüfft mich dabei, wie bereitwillig diese Beleidigten im Protest gegen Klischees und Stereotypen mindestens ein Klischee ausgiebig vorleben: Jemand tritt uns auf die Füße und wir werden zu Oberlehrern. Im Laufe der nächsten Stunde wird Stasiuk nicht nur darin unterwiesen, welches Deutschlandbild er gefälligst nicht mehr haben darf, sondern dass es schließlich auch Stalin gegeben habe und dass Literatur gefälligst dazu da sei, Klischees zu überwinden.
Es melden sich ein paar zaghafte Stimmen, die versuchen, auf die Literarizität des Textes hinzuweisen. Aber sie kommen nicht recht an gegen den Teil des Publikums, der übel nimmt. Stasiuk spielt allerdings auch eifrig den Provokateur, landet das eine oder andere Aperçu, ist dann wieder einfach nur flapsig und wohl auch etwas angetrunken. Er spaziert durch den Raum, setzt sich neben den älteren Herrn, um mit ihm zu plaudern und fixiert einen Zuschauer: „Sie sehen so deutsch aus, was ist ihre Meinung?“
Ich finde das alles abwechselnd großartig, unglaublich und zum Fremdschämen.
Eine Zuhörerin versucht Stasiuk davon zu überzeugen, dass sein Bild von den Deutschen völlig hinter dem Mond sei, weil sie mal eine Polin getroffen habe, die total begeistert darüber war, dass sie aus Deutschland kam. Die Polin habe nämlich im Krieg einen deutschen Offizier, groß und blond, getroffen, und der habe gesagt, er mag die Polen, weil sie alle gute Katholiken seien. „War bestimmt ein Österreicher“, grollt Stasiuk.
Ein anderer Zuhörer teilt uns den einzigen Satz auf Polnisch mit, den er kennt, und der auf deutsch tatsächlich heißt: „Ich kann ein bißchen Polnisch“. Wir werden darüber informiert, dass sich alle Polen freuen, wenn er diesen Satz aufsagt. (Vermutlich etwa so, wie sich die Indianer über die Glasperlen gefreut haben, die man ihnen geschenkt hat.)
Deutschland sei für die Polen ein Trauma, sagt Stasiuk. „Aber wir haben doch auch ein Trauma“, protestiert die Zuhörerin, die Stasiuks Deutschlandbild hinter den Mond verlegte. Und überhaupt sei es mal Zeit, dass die Deutschen Schluss machen sollten mit ihrem Schuldkomplex, auch aus psychoanalytischen Gründen: „Was da für Übertragungen stattfinden, das ist unglaublich.“
Ein weiterer Zuhörer outet sich als Pole, der seit dreißig Jahren in Deutschland lebt, und fragt Stasiuk allen Ernstes, wie er damit leben könnte, mit seinem Text zur Spaltung beizutragen. „Warum nicht“, sagt Stasiuk.
Um die Stimmung ein wenig zu entschärfen, liest Kühl einen weiteren Abschnitt vor, in der Hoffnung, die Doppelbödigkeit von Stasiuks Spiel mit Stereotypen möge darin besser zum Vorschein kommen. Darin gibt es zum Beispiel diese Passage:
Auf der Reise nach Mainz begriff ich allmählich, worin wir uns unterscheiden – Slawen und Germanen. Wir unterscheiden uns in unserem Verhältnis zur Form. Die Germanen wollen sie vervollkommnen, die Slawen wollen sie ständig nur loswerden, eine durch die andere ersetzen, die jetzige in der Hoffnung abwerfen, die nächste werde bequemer sein.
Diese Beobachtung erfüllt sich schon kurz darauf – die Veranstaltung ist da bereits wieder in die Diskussion um Schuldkomplexe und Traumata ausgeufert – , als sich eine ältere Dame meldet und Stasiuk bittet, ein Kapitel auf polnisch vorzulesen, schließlich sei das doch der Sinn einer Lesung. Ach ja: Wenn die Form schon nicht mehr vervollkommnet werden kann, muss ihr wenigstens genügt werden.
Stasiuk beginnt zu lesen, aber man hört schon bei den ersten Sätzen, dass es ihm keinen Spass macht. Er wird mufflig, wirft das Buch weg und sagt: „Ich hab keine Lust, ich will lieber mit den Deutschen reden.“ Kühl wirkt leicht genervt und resigniert, ein paar Leute verlassen den Saal. Ob er keine deutschen Freunde habe, wird Stasiuk von einer Zuhörerin gefragt. Nein, sagt er und zeigt auf Kühl: „Der zählt nicht.“ Ob er denn kein Interesse habe, mit Deutschen Freundschaft zu schließen? „Nein?“ Warum nicht? „Wollen Sie etwa meine Freundin sein?“
So geht das eine Weile weiter, wobei die Diskussion rasch in kleine Sub- und Nebengrüppchen zerfällt. Schließlich beschliesst einer der Veranstalter, einzuschreiten, setzt sich auf einen Stuhl neben dem Lesetisch und sagt zu Kühl: „Nun erklären sie doch mal aus ihrer Perspektive, warum das Buch von Stasiuk so gut sein soll.“ Kühl ist eher angesäuert, mokiert sich über Stasiuks Flapsigkeit und sagt, das Buch sei eigentlich eine schöne Schilderung der Einsamkeit in Hotelzimmern und auf Bahnhöfen. Das sei nun alles verschwunden hinter der Diskussion über die deutsche Vergangenheit, und die sei nun wirklich nicht Thema des Buchs.
Und dann ist die Veranstaltung zu Ende.
… nicht ausgeschlossen ist, dass dieser Bericht aus lauter Irrtümern besteht.
Das Publikum löst sich auf, aber so heftig debattierend, wie ich das selten nach einer Lesung erlebt habe. Auch Stasiuk muss natürlich, während er Bücher signiert, noch zahlreiche Fragen beantworten. „Ich glaube, die Kölner haben das mit der großen Ratte übel genommen“, sagt Paul.
Ich gehe zur Straßenbahnhaltestelle und treffe dort ein wartendes Pärchen. Sie ist die junge Polin, der das polnische Wort für Gemütlichkeit eingefallen war. Ihr Freund fragt mich schüchtern: „Sind Sie Deutscher?“ und erzählt dann, dass er nicht verstehen könne, warum der Text diesen Affront provoziert habe. Er als Deutscher sei in Polen immer freundlich behandelt worden. Wir plaudern ein bißchen, ein netter Kontrapunkt zu der Aggressivität, die während der Lesung ausbrach. Als ich sage, dass mir Stasiuk hier und da auch ein wenig zu flapsig gewesen sei, meint sie: „Ach, das muss so sein: In Polen geht jedes Gespräch irgendwann aus den Fugen, und alle reden durcheinander.“
Dann muss ich umsteigen und beginne in meiner Ausgabe von Dojczland zu lesen.
Nur ein paarmal war es so, daß jemand aufstand und dramatisch fragte: „Wann werden eure Homosexuellen endlich gleichberechtigt sein?“ Ich antwortete ebenso dramatisch: „Der Tag ist nah.“ Oder es wurde gefragt: „Wann hört ihr endlich auf, unsere Autos zu klauen?“ Ich erwiderte nach bestem Wissen und Gewissen: „Das wird wohl noch eine Weile dauern. Sollen wir vielleicht die weißrussischen nehmen?“ Aber das waren Einzelfälle. Meist ging es meinem Publikum um die Literatur.
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