Anmerkungen zu Danzig


Danzig, Altstadt

… ich genoß diese Nachmittage in der farbigen, immer etwas musealen, ständig mit diesen oder jenen Kirchenglocken lärmenden Altstadt.

Grass, Die Blechtrommel

Altstadt und „Altstadt“ ist nicht ganz das gleiche in Danzig, sagt uns der Reiseführer. Da gibt es den Stadtteil, der so heißt (bzw. auf polnisch „Stare Miasto“), aber wesentlich später zur „Stadt“ erhoben wurde als die benachbarte „Rechtstadt“. Die wiederum ist der Teil, den die meisten Touristen als Danzigs Altstadt bestaunen, während der offizielle Name heute einfach „Główne Miasto“ lautet, also etwa „Stadtzentrum“.

In dieser kleinen Namensparadoxie kann man noch die Spur der besonderen Geschichte erkennen, die Koexistenz zweier Kommunen auf dem Raum einer Stadt, den Nachschein eines manchmal dynamischen, manchmal prekären Neben- und Miteinanders der ethnischen, religiösen und sozialen Gemeinschaften, die hier lebten. Es gibt in der Urbanistik eine aktuell wieder auflebende Diskussion darüber, was eine Stadt zur Stadt macht: Administrative Grenzen? Wirtschaftsstrukturen? Geographische Gegebenheiten? Das Selbstgefühl der Einwohner? Danzig ist fast so etwas wie der exemplarische Fall einer Stadt, in der das Stadt-sein selbst immer wieder in Frage gestellt und neu definiert wurde.

Danzig, Altstadt

Die Altstadt, in der Grass seinen Oskar die schönen Nachmittage genießen lässt, ist jedenfalls der Teil der Stadt, der auch tatsächlich so heißt. Diese offizielle „Altstadt“ war ein Viertel der kleinen Leute, vorwiegend polnischer und kaschubischer Handwerker und Kleinkrämer. Die Rechtstadt dagegen war der Vicus theutonicus, der Bezirk der deutschen Kaufleute, die ihren Reichtum in großartigen Bürgerhäusern darstellten, in einem der beeindruckendsten Rathausbauten, die ich kenne, und in einer Kirche, die heute noch zu den größten der Welt gehört. Es ist nicht uninteressant, dass die Deutschen den Namen ihrer Stadt aus der Sphäre des Gesetzes ableiteten, vom Lübischen Recht, das in ihren Mauern galt und eben nicht in dem scheinbar chaotischen Straßengewimmel der „slawischen“ Nachbarstadt.

Die prächtigen Häuser der Rechtstadt und die wimmelnden Gassen der Altstadt wurden in der Endphase des Zweiten Weltkriegs fast völlig zerstört. Aber während die Rechtstadt akribisch wieder aufgebaut wurde, „Steinchen für Steinchen“, wie der Reiseführer betont, ist in der Altstadt nur wenig übrig geblieben. Entlang des Radaunekanals sind einige Sehenswürdigkeiten rekonstruiert worden: Die Große Mühle vor allem (die heute leider eine mäßig interessante Shoppingpassage beherbergt), das Altstädtische Rathaus, schöne Kirchbauten wie die Brigitten- und die Katharinenkirche (die leider 2006 bei einem Brand ein weiteres Mal schwer beschädigt wurde). Ansonsten gibt es hier vor allem Zweckbauten aus den Nachkriegsjahren, und wie die Tischlergasse ausgesehen haben könnte, als Oskar dort beim Spielzeughändler Markus geparkt wurde, damit seine Mutter ungestört ihren Rendezvous‘ nachgehen konnte, das muss man sich im Kopf ausmalen. Unser Hotel, das Aureus, ist quasi um die Ecke des fiktiven Spielzeugladens, ein noch relativ neues Haus mit einem potemkinschen Einschlag: Von außen täuschen drei Fassaden mehrere Gebäude vor, dahinter verbirgt sich ein einziger, dafür recht geschmackvoll sanierter und modern eingerichteter Komplex.

Danzig, Spendhaus

Vor der Tür des Aureus liegt das Spendhaus, ein ehemaliges Armenhaus aus dem 18. Jahrhundert, mit zwei interessanten Inschriften: Die eine erzählt, in schnörkeliger Fraktur, von den Gründung des Gebäudes durch wohltätige Spender aus der Danziger Bürgerschaft, die andere, zweisprachig, erinnert an Hans Wichmann, einen SPD-Politiker aus den Dreißiger Jahren, der (möglicherweise an dieser Stelle?) von den Nazis entführt und später ermordet aufgefunden wurde.

Direkt gegenüber vom Spendhaus und gut sichtbar aus unserem Hotelzimmer: das schwarzrot geklinkerte Gebäude der Polnischen Post. Es macht, trotz seiner Größe, einen eher melancholischen und zurückhaltenden Eindruck, als wollte es ablenken von den dramatischen Ereignissen, die hier im September 1939 stattfanden. Zeitgleich mit mit den Schüssen auf die Westerplatte attackierten deutsche Einheiten das Gebäude. Die Insassen des Gebäudes hatten nicht wirklich eine Chance, 14 von ihnen starben im Gefecht oder an Verletzungsfolgen, 39 wurden festgenommen und hingerichtet. Verglichen mit dem, was in den folgenden Jahren an Vernichtungswut über Europa und die Welt fegen sollte, mag das Gefecht um die Post nur wie ein kleines Scharmützel wirken. Aber die Brachialität, mit der die deutschen Einheiten vorgingen, war eine deutliche Ankündigung dessen, was da noch kommen sollte. Von dieser Brachialität spricht auch das Denkmal zu Ehren der getöteten Postbeamten, das wie eine vergessene Theaterkulisse auf dem Platz vor der Post steht. An der Post selbst gibt es eine bescheidenere Tafel mit den Namen der Opfer: Neben den vielen polnischen sind dort auch einige deutsch klingende Nachnamen zu lesen.

Danzig, Denkmal für die getöteten Postbeamten

Von der Post aus hat man nur ein paar Schritte in die Rechtstadt zu gehen, und fast könnte man sagen, es ist ein Gang vom Krieg in die Kulisse. Kann man in der Alstadt die Verwüstungen von 1945 noch an einigen Baulücken und unvollständig wirkenden Straßenzügen erkennen, so scheint in der Rechtstadt jede Spur des Krieges gezielt und mit großer Akribie und Sorgfalt getilgt worden zu sein. Der Wiederaufbau ist so umfassend erfolgt, dass man auf den ersten Blick tatsächlich glauben könnte, hier sei nie etwas in Schutt und Asche gelegt worden, und jeder Reiseführer, den man in die Hand nimmt, wird auf die beeindruckende Leistung hinweisen, die damit vollbracht wurde, und auf die Anerkennung, die polnischen Stadtplaner und Kunsthistoriker dafür erhalten haben.

Danzig, Brama Zielona

Eine beinah komplett zerstörte Stadt beinah komplett wieder aufzubauen (und nicht etwa die Verwüstung des Krieges symbolisch fortzusetzen, um aus Danzig eine Art modernes Karthago oder Tenochtitlan zu machen), ist ja auch eine bemerkenswerte Leistung. Wenn man genauer hinschaut, sieht man freilich, dass eine authentische Rekonstruktion allenfalls bei einigen herausragenden Gebäuden wie dem Rathaus, dem Zeughaus oder dem Artushof angestrebt wurde. An anderen Stellen hat man sich eher damit begnügt, Straßenzüge in stilisierter Form wieder auferstehen zu lassen. Mit der Authentizität ist das eh so eine Sache: Auf welche Epoche bezieht man sich dabei? In Danzig hat man die Wiederaufbaumaßnahmen auch unter ideologischen Gesichtspunkten vorgenommen: Das bürgerliche 19. Jahrhundert ist aus der Rechtstadt fast völlig verschwunden, Neugotik oder Jugendstil sucht man beinah vergeblich. Das ist vor allem von konservativen Kunsthistorikern gerne moniert worden, wenn nicht gar als eigener Beleg für die Geschichtsklitterung kommunistischer Politik gewertet worden. Als ob ideologiefreie Authentizität im westeuropäischen Denkmalschutz jemals angestrebt, geschweige denn möglich gewesen wäre. Und insgesamt muss man sagen, dass die ideologische Komponente in den nachgebauten Fassaden sehr subtil und zurückhaltend eingebracht worden ist.

Danzig, Hotel Krolewski und Baltische Philharmonie

Es gibt von Eichendorff (der hier einige Jahre gelebt hat) ein berühmtes Gedicht über die Stadt, als „zauberhaft versteinete Märchenwelt“, in der „dunkle Giebel, hohe Fenster,/Türme wie aus Nebel sehn“ und „bleiche Statuen wie Gespenster/Lautlos an den Türen stehn“. Die Doppelbödigkeit dieses Gedichts geht einem so richtig auf, wenn man in einer frostigen, klaren Januarnacht durch die schneebedeckten und einsamen Gassen knirscht. Denn die Märchenwelt, die Eichendorff sieht, ist keine idyllische Zauberlandschaft, sondern eine leere Geisterstadt, über die die Geschichte hinweg gegangen ist und die nur noch steinerne und stumme Zeugen aufbieten kann. Die „träumerische“ Atmosphäre, die ihr attestiert wird, ist nichts anderes als die Unfähigkeit, diese Zeugen zum Sprechen zu bringen. Auch der Türmer aus der letzten Strophe vermag nicht mehr als ein altes Lied anzustimmen und für die vorbeiziehenden Schiffer zu beten. Aber es gibt immerhin den Mond, der daran Gefallen findet, und den Dichter, der die Spuren lesen und erlösen kann.

Die Vision einer toten Stadt schrieb Eichendorff zu einer Zeit, als Danzigs Ökonomie tatsächlich am Boden lag. Dass eine Stadt auch so vollständig ausgelöscht werden könnte, dass nicht mal mehr Gespenster übrig bleiben, hat er wohl nicht geahnt. Den Wiederaufbau Danzigs könnte man vielleicht auch als den Versuch sehen, Geschichte zumindest als Kulisse gegenwärtig zu machen, sozusagen eine Hülle zu bieten, in der Phantome überhaupt erst auferstehen und dann vom Betrachter zum Sprechen gebracht werden können.

Danzig, Mariacka

Viele polnische Schriftstellern und Regisseuren haben eine besondere Affinität zum Phantastischen. Vielleicht liegt das daran, dass man viele Stationen polnischer Geschichte auch in Topoi des phantastischen Films oder Romans erzählen. Kann man es den Polen verdenken, wenn sie sich, eingezwängt zwischen zwei unberechenbare Großmächte, ähnlich fühlen mögen wie die Einwohner Tokios in den japanischen Science-Fiction-Filmen, die auch jedes Mal damit rechnen müssen, dass Godzilla und Mothra aufmarschieren, um ihre Stadt als Schauplatz irgendeines finalen Endkampfes platt zu machen? Und bei neueren Autoren wie Stefan Chwin und Pawel Huelle scheint Danzig mit seiner Geschichte eine ähnliche Rolle zu spielen wie die versunkenen Indianerfriedhöfe in amerikanischen Horrorfilmen: Als etwas, das unerledigt unter dem Pflaster und in den Mauern der Häuser schlummert und nicht wirklich vorbei gehen kann. In Chwins Roman Tod in Danzig
etwa wirkt der Protagonist Hanemann wie ein Untoter, der seine Stadt untergehen sieht, aber selbst nicht sterben oder einfach weggehen kann. Also lebt er weiter, auch wenn er wenig mehr tut, als die neu ankommenden Menschen durch seine bloße Nachbarschaft daran zu erinnern, dass es Geschichte, Tragik, Veränderung und Verlust gibt.

Danzig, Mariacka

Eine Antwort

  1. I was born and grew upp in this town, lost everything especially my father who was killed, the business and houses in the town and Glettkau. Living now on the other side of the earth. I still think of MY Danzig the way it was. Not of the now “ Gdansk“
    I still miss the town very much.
    Ellen Thrun, formerly Breitgasse and also Am Wiesendamm in Glettkau.

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