Am Vigiljoch


Vigiljoch

Wir waren gar nicht anspruchsvoll: Für den Start hatten wir uns eine leichte Tour ausgesucht, nicht zu anspruchsvoll, aber ein bisschen alpines Gefühl sollte schon dabei aufkommen. Die Tour vom Vigiljoch zur Naturnser Alm, die der antiquarisch eingekaufte Rother als mittelschwer ausgeflaggt hatte, schien genau das Richtige zu sein.

Die Fahrt zum Startpunkt war nicht weit, nur ein paar Kilometer nach Lana, einem der wenigen Orte in Südtirol, deren Name auf deutsch genauso lautet wie auf italienisch. Es gibt dort außerdem, erzählt uns der Reiseführer, einen bedeutenden Altar von Hans Schnatterpeck, den wir zwar nicht gesehen haben, aber „Schnatterpeckaltar“ ist so ein hübsches Wort, deswegen sei das hier erwähnt.

Von Lana aus kommt man mit technischen Hilfsmitteln sehr bequem auf eine schon recht respektable Höhe: Eine Kabinenseilbahn befördert einen auf über 1.400 Meter, dann kann man in einen kleinen Sessellift umsteigen, mit dem man noch einmal fast 400 Meter nach oben gelangt. Die Kabinenseilbahn gilt als eine der ältesten in Europa (die „zweitälteste Schwebeseilbahn“ laut Eigenwerbung) und ist vor wenigen Jahren modernisiert worden, auf Initiative des Meraner Unternehmers Ulrich Ladurner.

Ladurner, Geschäftsführer eines Unternehmens, das glutenfreie Lebensmittel produziert, ist auch verantwortlich für den Bau des Vigilius Mountain Resort, das sich direkt neben der Bergstation der Seilbahn befindet. Das Vigilius gehört sicher zu den interessantesten Hotelbauten der vergangenen Jahre. Entworfen wurde es von Matteo Thun, Sottsass-Schüler und Mitbegründer der Memphis-Gruppe, und es gehört in eine ganze Reihe neuer, ehrgeiziger Bauten, die in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren in Südtirol errichtet worden sind. (Leider versagte der Akku meiner Kamera, weswegen ich keine Bilder machen konnte, aber im Internet gibt’s ja genug Ersatz.)

Es gibt da einige bemerkenswerte Versuche, eine Art dritten Weg zu einer genuin „alpinen“ Architektur zu entwickeln, zwischen der sterilen Pseudo-Folklore, die in vielen touristisch erschlossenen Alpendörfen dominiert, und dem rücksichtslosen Instant-Modernismus, aus dem zahlreiche Retorten-Skistationen hochbetoniert wurden. Das Vigilius steht sichtbar für ein neueres Denken, das Natur und Landschaft nicht mehr überwältigen möchte, sondern einen offeneren und lebendigen Dialog damit versucht.

Das ist freilich kein massentourismuskompatibles Denken, und die Zielgruppe Vigilius sind denn auch eher auf die Verantwortungsbewussten unter den Besserverdienenden, die den „Luxus der Einfachheit“ schätzen, auf „Wärme und Unmittelbarkeit der Materialien Holz, Lehm, und Leinen“ hingewiesen werden möchten und guten Service als „natürliche Herzlichkeit der Menschen, die hier für Sie da sind“ beschrieben haben wollen. Der Jargon der Nachhaltigkeit, den Website und Werbeprospekt verströmen, kommt nicht ohne den Echtheits-Kitsch aus, den diese Zielgruppe so liebt („Authentisch und offen wie der Berg sind auch seine Menschen“). Aber bei aller Skepsis: Ich fand den Bau durchaus beeindruckend, vor allem den Gästetrakt, ein „liegender Baumstamm„, der sich wie die Logen eines Theaters in den Hang schmiegt. Eine neobuddhistische Austerität, die aber beidem – dem Gebäude und der Landschaft drumherum – ganz gut bekommt. Der Trakt, in dem die Restaurants untergebracht sind, wirkt etwas bemühter, vielleicht weil er etwas zu deutlich als Zitat der landestypischen Hof- und Hotelarchitektur stehen soll.

Der altmodische Sessellift, den man gleich oberhalb des Vigilius erreicht, steht in angenehmem Kontrast zur alpinen Moderne des Hotels. Ein herrlich altmodisches Ding, einsitzige Gondelchen aus Billigmetall mit ausgeblichener rosa Plastikumrandung und erstaunlich rudimentärer Verriegelung: Darin quietscht und schaukelt man ganz gemütlich bergan.

Von der Bergstation des Sesselliftes sind es nur ein paar Schritte bis zur prominentesten Sehenswürdigkeit des Vigiljochs: Die kleine Kapelle Sankt Vigilius, die sehr pittoresk auf einem kleinen Hügelchen liegt. Eine Kirche, die nicht nur religiöse Kultstätte, sondern auch politisches Symbol war, denn hier über’s Joch verlief die Grenze des Erzbistums Trient, und quasi zu Füßen der Kapelle liegt Schloß Tirol, Sitz der Grafen von Tirol, deren Beziehungen zum Tridentiner Bistum oft angespannt waren.

Vigilius war einer der ersten Bischöfe des Erzbistums. Er war aber vor allem auch ein eifriger Missionar und ein Märtyrer, zu einem Zeitpunkt, als beides schon sehr staatstragende Betätigungen waren, nämlich im 4. Jahrhundert. Nicht weit von hier soll er zu Tode gekommen sein, im Rendenatal, wo man Vigils missionarischen Bemühungen offenbar lange widerstand:

Eine einzige Bergschlucht blieb jetzt dem unermüdeten evangelischen Sämanne zur Anpflanzung übrig: Randena, ein kleines Seitenthälchen von Judikarien, welches die Sarka bewässert, die sich bald darauf in den Gardsee ergießt. Dort warfen sich noch Viele nieder vor einem aus Erz gegossenen, auf Steinen erhöhten Gotte, und betheten in ihm ihre Leidenschaften an. Lange bemühte sich Viglius vergebens. Nun war der Schluß gefaßt : fallen soll er der schändliche Götze, dessen Sturz auch die Befehle des Kaisers wollten.

So schreibt der Zisterzensierpater Kasimir Schnitzer in seinem Buch zur Geschichte des Bistums. Schnitzer lässt im Übrigen keinen Zweifel daran, dass das missionarische Unterfangen als religiöses Selbstmordkommando zu verstehen ist: Kurz zuvor waren drei Gesandte Vigils während der Missionierung eines benachbarten Tals umgebracht worden (was Schnitzer ausführlich und detailliert schildert), und Vigil selbst wird durch ein Zeichen Gottes auf sein eigenes Schicksal hingewiesen:

Einem Seraph gleich, der Erde ganz entrückt, stand der bewährte Diener Gottes am Altare. Staunend hörten ihn die Umstehenden während der heiligsten Handlung laut bethen: „Ich danke dir Christus, daß ich, was ich lange gesucht, endlich gefunden habe; ich sehe mit meinen Augen an deiner Rechten, was du mir bereitet hast.“ Wie Rauchwolken stieg das vereinte Gebeth für das Gedeihen des bevorstehenden Unternehmens aus den Herzen zum Himmel auf. Gestärkt durch die heiligsten Geheimnisse, und durch das Gesicht, das ihm dabey ward, entriß sich Vigilius den Armen der Seinen, zu folgen dem Rufe des Herrn.

Es kommt wie es kommen muss: Dem Gottesmann gelingt es zwar, das Götzenbild (eine Statue Saturns, heißt es an anderer Stelle) „mit mehr denn natürlicher Mannskraft zu Boden“ zu stoßen, „das steinerne Fußgestell“ zu ersteigen und „die einzige wahre Heilslehre, die Lehre vom Kreuze, zu verkünden“.

Aber jetzt stürmten die etwa schon lauernden Götzendiener unter wildem Geschrey mit Stangen und Gabeln auf ihn los; mit Steinen und Knospen (Holzschuhe mit eisernen Nägeln) waren sie auf ihn zu. Von einem schweren Steine am Kopfe getroffen, sank er hin in tödlicher Ohnmacht. Noch sammelte er seine letzten Kräfte; schon ganz bluttriefend richtete er sich auf, zu bethen für die Unwissenden, und legte dann sein Haupt unter den gewaltsamsten Stößen auf ewig zur Ruhe. So gab der gute Hirt endlich auch sein Leben für seine Schafe. Von seinen Begleitern wurde keiner verletzet.

Die Heiligsprechung Vigils folgte rasch, und bis heute gilt er als eine der zentralen Heiligengestalten der lokalen Kirche. Darauf weisen nicht zuletzt die zahlreichen Ortsnamen hin, die auf Vigil lauten. Die Exponiertheit des Vigiljochs lässt vermuten, dass sich hier schon in vorchristlicher Zeit eine Kultstätte befunden haben könnte – wem könnte man einen solchen Ort besser überantworten als einem Kämpfer für den rechten Glauben. Zumal Heiden- und Ketzertum aus der Region nicht dauerhaft verbannt waren: Im Hohen Mittelalter, etwa zu der Zeit, als das Kirchlein errichtet wurde, gab es zum Beispiel die Laienbewegung der Apostelbrüder, die in Oberitalien einige Anhänger gewinnen konnte und sogar eine Art Guerrilla-Krieg zu führen begann.

Schnitzer erwähnt übrigens noch eine kuriose Anekdote, um die Popularität des Heiligen zu unterstreichen: Es habe nach dem Tod Vigils Streit gegeben zwischen den Tridentinern und den Brescianern, schreibt er: „Beyde wollten sich die Hülle des Heiligen eigen machen.“ Fast wäre es darüber „zu Gewaltthätigkeiten“ gekommen, „hätten die erstern ihre Nachbarn nicht durch Anbiethung eines silbernen Gefäßes zum Nachgeben gebracht“.

Wo sich dieses Gefäß nun befindet, weiß ich nicht. Das Kirchlein auf dem Vigiljoch kann man besichtigen, den Innenraum mit ein paar interessanten Fresken aus dem 13./14. Jahrhundert allerdings nur durch ein Gitter betrachten.

Wir zogen darum auch rasch weiter zur Naturnser Alm. Der Weg ist gut ausgeschildert und leicht zu finden: Das erste Stück zieht sich etwas, es geht bergauf durch den Wald, bis man an einem Abzweig auf einem schmaleren Pfad durch abwechslungsreicheres Gelände geführt wird.

Wir hatten gutes Wetter erwischt, allerdings war es sehr dunstig, und als Panorama gab es nur die blaugrauen Silhouetten der umliegenden Berge. Etwa nach einer Stunde erreichten wir die Alm – wenig herausgeputzt, einfach und zweckmäßig eingerichtet, aber mit einer herrlichen Aussicht, die wir im Dunst freilich eher erahnen mussten. An den zahlreichen Tischen und Liegestühlen konnte man sehen, dass man hier auch auf größere Besucherzahlen eingestellt ist, aber außer uns waren nur einige Mountainbiker und ein paar Wanderer anwesend. Und ein Grüppchen rüstiger alter Männer, das vor der Alm sass. Zwei von ihnen hatten Instrumente dabei, und als wir uns wieder auf den Rückweg machten, weil ein paar dunkle Wolken über den Bergen zusammenzogen, wurden wir von einem kleinen Liedchen begleitet: Sehr ungeschminkte und bodenständige alpine Folklore, als wollten die Musiker ihre eigene Version von Authentizität umsetzen.

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