Was macht eine Stadt zur Stadt? Wie wird aus einer Ansammlung von Häusern, Straßen und Menschen eine geographische Einheit, ein Objekt der Identifikation, ein Bezugspunkt für patriotische und heimatliche Gefühle? The City & The City von China Miéville ist ein brillianter dystopischer Kriminalroman, ein eleganter Mix aus hard-boiled und police procedural. Police procedural ist das Sub-Genre, dessen Name im Deutschen oft unscharf als „Polizei-Krimi“ wiedergegeben wird. Das „Prozedurale“, das detaillierte Aufdröseln der Ermittlungsvorgänge, in denen Wahrheit freigelegt und konstruiert wird, ist aber mindestens ebenso wichtig wie das Milieu, in dem sie stattfinden, und verschränkt das Genre mit dem phantastischen Realismus eines Kafka oder Borges, wo bürokratische, literarische oder philosophische Strukturen bis in ihre absurdesten Verästelungen forciert werden. In Miévilles Roman setzt ein polizeiliches Ermittlungsverfahren zugleich Prozesse in Gang, die ein komplexes politisches Gebilde in Einsturzgefahr bringen.
Auslöser der Geschichte ist ein Mord: In einem heruntergekommenen Vorort einer fiktiven osteuropäischen Stadt wird die Leiche einer Frau gefunden. Ein Routinefall, scheint es, aber schon bei der Feststellung der Identität des Opfers verstrickt sich der ermittelnde Inspektor Tyador Borlú in das sonderbare politische Geflecht seines Umfelds. Denn Besźel, seine Stadt, hat einen Nachbarn, Ul Qoma, und beide Metropolen sind auf komplexe und prekäre Art und Weise miteinander verbunden: Ein großer Teil ihres Territoriums liegt weder eindeutig in der einen noch in der anderen Stadt. Crosshatched (wörtlich: kreuzschraffiert) nennen sich diese Zonen überlappender Souveränität, in denen Besźel und Ul Qoma weniger neben- als eher durcheinander existieren.
Eine Gemengelage,die zahlreiche diplomatische, politische und juristische Probleme mit sich bringt, zumal beide Städte in einem etwas angespannten Verhältnis zu einander stehen: Einerseits das relativ pluralistische, aber etwas heruntergekommene Besźel, auf der anderen Seite Ul Qoma, eine Art China im Kleinen, mit einer deutlich strikteren politischen Struktur, dafür beflügelt durch einen wirtschaftlichen und technologischen Boom. Um die diffizile Situation im Gleichgewicht zu halten, haben die Städte und ihre Bewohner einen ebenso bizarren wie raffinierten modus vivendi entwickelt, der ihrem Alltag eine weitgehende Normalität und Funktionsfähigkeit ermöglicht: Sie ignorieren sich gegenseitig. Das muss man ganz wörtlich nehmen: Wer als Einwohner Besźels in einer kreuzschraffierten Zone unterwegs ist, in der sich auch Ul Qomanis aufhalten, wird geflissentlich versuchen, sie, ihre Häuser, ihre Autos zu übersehen bzw. gar nicht erst bewusst wahrzunehmen. Dieses gegenseitige Unseeing und Unsensing haben die Menschen beider Städte zu einiger Perfektion entwickelt (und sie verlangen es auch von den wenigen Ausländern, die als Touristen, Gastarbeiter oder Geschäftsleute in die Stadt gelassen werden): Die Identifikation mit der eigenen Stadt ist somit weniger eine territoriale, sondern eine psychologische Funktion, ein halb-bewusster, halb-unbewusster Vorgang, der jeden Tag aufs Neue gelebt werden muss.
The early years of a Besź (and presumably an Ul Qoman) child are intense learnings of cues. We pick up styles of clothing, permissible colours, ways of walking and holding oneself, very fast. Before we were eight or so most of us could be trusted not to breach embarassingly and illegally, though licence of course is granted children every moment they are in the street.
Alterity in Lüttich. Quelle.
Das System scheint im Alltag einigermaßen gut zu funktionieren, die uneinheitliche Bebauung einer Straße wird zum Beispiel nur vage als alterity registriert, ohne weiter wahrgenommen zu werden. Aber natürlich führt es auch zu einigen skurrilen Situationen, etwa wenn die Polizei der einen Stadt durch eine Straße rast, die in der anderen eine Fußgängerzone ist. Oder wenn in einer Seitengasse ein vertrauliches Verhör durchgeführt wird, während rings um die Protagonisten als schattenhafte Umrisse das rege Treiben einer Geschäftsviertels tobt:
In Besźel the area was pretty unpeopled, but not elsewhere across the border, and I had to unseeing dodge many smart young businessmen and -women. Their voices were muted to me, random noise. That aural fade comes from years of Besź care. When I reached the tar-painted front where Corwi waited with an unhappy-looking man, we stood together in a near-deserted part of Besźel city, surrounded by a busy unheard throng.
Es ist nicht schwer, diese seltsame(n) Doppelkommune(n) als Metaphern für real existierende politische Situationen zu deuten: Von den komplexen ethnischen und nationalen Abgrenzungen im Balkan über das prekäre Nebeneinander Israels und Palästinas zu fast nur noch touristisch relevanten Phänomenen wie der kuriosen belgisch-niederländischen Doppelstadt Baarle (wo sich aus Kriminalfälle aber durchaus noch interessante Zwickmühlen der Zuständigkeit ergeben, die denen von Beszel und Ul Qoma nicht unähnlich sind). Und natürlich ist die alltägliche Praxis der Einwohner von Besźel und Ul Qoma nicht so weit entfernt von der Art und Weise, wie viele Städter heutzutage die wachsende Komplexität ihres Umfelds erfahren: Als heterogenes Patchwork unterschiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeiten, sozialer, politischer und kultureller Ausdifferenzierungen, als Gleichzeitigkeit von Dynamik, Stasis und Verfall. Das täglich Unseeing von Menschen, Vierteln oder Strukturen der eigenen Stadt ist ja gar kein so absurder Vorgang. Offizielle und private Grenzziehungen überlagern sich und stehen bisweilen sogar im Widerspruch zu einander: Vor einigen Monaten ließen britische Wissenschaftler von Schulkindern Landkarten ihres Schulwegs anfertigen und entdeckten dabei eine geheime Topographie aus beanspruchten, neutralen und umkämpften Zonen. In den Augen der Kinder waren öffentliche Plätze und Straßen nichts allgemein Zugängliches, sondern repräsentierten entweder „Besitztümer“ der eigenen Banden und Cliquen oder No-Go-Areas, in denen rivalisierende Gruppen ihre Ansprüche durchsetzten und Grenzüberschreitungen gefährlich werden könnten.
Wohnhäuser und Grenzen in Baarle. (Quelle.)
In Besźel und Ul Qoma sind Grenzüberschreitungen eine existentielle Bedrohung, weil sie das Selbstverständnis beider Städte aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Eine eigenartige Organisation sorgt deshalb dafür, dass das System wechselseitigen Aus-dem-Weg-Gehens in Gang bleibt. Sie heißt wie das Delikt, das sie sanktionieren soll: The Breach. Die Unklarheit ihrer politischen und juristischen Legitimation ist eines der Geheimnisse, das den Plot des Romans in Gang hält, aber es gibt keinen Zweifel, dass sie ihr Ressort mit umfassenden Kompetenzen verwalten kann:
The powers of Breach were always wrathful and as Old Testament as they had the powers and right to be. That terrible presence might appear and disappear a unificationist for even a somatic breach, a startled jump at a misfiring Ul Qoma car.
Breach ist ein Delikt, dem keine Absicht zu Grund liegen muss – es kann einem ebenso gut einfach zustoßen, etwa wenn man über den Knall eines Autos erschrickt, dass sich in der Stadt befindet, die man eigentlich nicht wahrnehmen darf. Für die Notwendigkeit eines Einschreitens von Breach (der Organisation) macht das keinen Unterschied, und in keiner der beiden Städte gibt es eine echte Möglichkeit, dagegen Berufung einzulegen. Es ist ein Delikt, in dem der Zufall eine schicksalshafte Dimension bekommt, so wie Ödipus auch keine reelle Chance hat, den Mord und den Inzest zu vermeiden, der ihm vom Orakel prophezeit ist, auch wenn die Umstände, die dazu führen, von Zufälligkeiten umstellt sind. Und wie die Erinnyen muss Breach bei einem Verstoß unweigerlich aktiv werden und dafür sorgen, dass das Delikt möglichst rückstandslos getilgt wird. Aber da die Macht von Breach unauflöslich an die Verfolgung dieses Delikts geknüpft ist (was logischerweise impliziert, den Alltag fortwährend beobachten zu müssen, aber nur unter diesem einen Aspekt auswerten zu können), gilt für sie etwas Paradoxes: Die Macht ist unbegrenzt, aber eingeschränkt – und selbst wiederum abhängig von einem System von „arcane checks and balances“, die zwischen Breach, Besźel und Ul Qoma eingerichtet sind.
The powers of the Breach are almost limitless. Frightening. What does limit Breach is solely that those powers are highly circumstantially specific. The insistence that these circumstances be rigorously policed is a necessary precaution for the cities.
Unausweichlichkeit und Bedingtheit der Macht von Breach haben für den ermittelnden Inspektor Borlú ganz praktische und vertrackte Konsequenzen: Einerseits darf er Indizien, die ihm aus der Nachbarstadt mitgeteilt werden, aber eindeutig auf unzulässigen Wahrnehmungen beruhen, nicht , ohne selbst zum Breacher zu werden.
My informant should not have seen the posters. They were not in his country. He should never have told me. He made me accessory.
Kampf der Poster an einer Wand in Venezuela. Quelle.)
Andererseits gibt es auch keine Möglichkeit, Breach in Ermittlungen einzubinden, selbst wenn ein Fall grenzüberschreitende Ausmaße annimmt: Wenn dabei die „hochspezifischen Umstände“ eines Breachs nicht berührt werden, gibt es für diese Organisation auch keinen Grund einzuschreiten. Denn bei aller Differenz gibt es längst legitimierte Durchlässigkeiten und Interaktionen zwischen Besźel und Ul Qoma. Mehr noch: Der Roman spielt zu einer Zeit, wo sich beide Städte gerade in einem Klima der Entspannung befinden – schließlich lässt der Druck der Globalisierung auch so ein merkwürdiges Staatengebilde nicht unberührt. Das hindert die verantwortlichen Politiker und Behörden nicht daran, das prekäre Nebeneinander funktionsfähig und am Leben zu halten. Die Schilderung der bürokratischen und diplomatischen Mechanismen, die dafür sorgen sollen, und die elegante Verflechtung mit dem kriminalistischen Plot gehören zu den Stärken dieses Buchs. Miéville hat – neben den Fantasy-Romanen, die ihn berühmt gemacht haben – eine Dissertation zum internationalen Recht aus marxistischer Perspektive geschrieben, und man merkt dem Roman an, welchen Spass es gemacht haben muss, sich ein solches Staatengebilde mit allen juristischen und diplomatischen Implikationen auszumalen.
Und dann soll es ja noch eine dritte Stadt geben, Orciny, ein merkwürdiges Gebilde, das wie eine hartnäckige Verschwörungstheorie in den Köpfen einiger Protagonisten herumspukt und dessen Existenz oder Nicht-Existenz zu einer der Schlüsselfragen des Buches wird.
Orciny’s the third city. It’s between the other two. It’s in the dissensi, disputed zones, places that Besźel thinks are Ul Qoma’s and Ul Qoma Besźel’s. When the old commune split, it didn’t split into two, it split into three. Orciny’s the secret city. It runs things.
In keiner der beiden Städte wird dieser Mythos besonders gerne gesehen. Eine Erfindung von Dichtern und Troubadouren, heißt es, aber eine Erfindung wozu? Als Metapher oder als Konkurrenz für Breach? Als Tertium datur, als märchenhafter dritter Weg zwischen den Inkompatibilitäten der beiden realen Städte? Gab es überhaupt eine “alte Kommune”, einen gemeinsamen Ur-Kern, aus dem die Städte entstanden? Ist das Nebeneinander von Besźel oder Ul Qoma Resultat einer Spaltung oder einer Verschwisterung? Die Gründungsmythen beider Städte enthalten mehr dunkle Flecken als Gewissheiten, sie sind so unsichtbar und schattenhaft, wie man die Passanten und Geräusche der jeweiligen Nachbarstadt täglich machen muss.
If split there was. That beginning was a shadow in history, an unkown – records effaced and vanished for a century either side. Anything could have happened. All we know is nomads on the steppes, then those black box centuries of urban instigation – certain events, and there have been films and stories and games based on speculation (all making the censor at least a little twitchy) about that dual birth – then history comes back and there are Besźel and Ul Qoma. Was it a schism or conjoining?
Noch mehr Alterity in Lüttich. (Siehe auch hier.)
Diese Unklarheit könnte freilich gerade auch einer der stabilisierenden Faktoren dieses Staatengebildes sein: Das Vakuum, in dem ideologische Spekulationen und Behauptungen ungehindert vorangetrieben werden können. Die praktische Umsetzung der staatstragenden Ideologien scheint es vorauszusetzen, dass die Gründe ihrer Entstehung undurchsichtig werden.
In den Fokus der Ermittlungen gerät eine archäologische Ausgrabungsstätte in Ul Qoma, in der merkwürdige Dinge zu Tage gefördert werden, die aber fast nur von ausländischen Archäologen bearbeitet wird. Die wenigen einheimischen Teilnehmer scheinen sich mehr in einer Art Kontrollfunktion zu sehen, als gelte es, darauf zu achten, dass nur Artefakte zu Tage gefördert werden und nichts weiter. Ein amerikanischer Archäologe wird zu einer Schlüsselfigur: Er hatte die Existenz Orcinys einmal behauptet, hat das aber mittlerweile widerrufen. Vielleicht weiß er aber einfach mehr, als er zugibt?
Die Wahrheiten und Mythen, die im Zuge des Romans enthüllt, ent- und verworfen werden, sind, so gesehen, auch Metaphern für den Prozess des Schreibens und Lesens selbst. Mit großem Geschick dosiert Miéville die Enthüllungen und Erläuterungen, aber auch die Lücken, die unklaren und nicht aufgehen wollenden Reste seiner Geschichte. Man könnte einige Dialoge zu konstruiert, einige Figuren zu klischeehaft empfinden. Aber diese Konstruiertheit und Klischeehaftigkeit sind möglicherweise auch bewusst eingesetzte Stilmittel, um falsche Fährten auszulegen oder Absurditäten um so deutlicher sichtbar zu machen. Um das noch weiter auszuführen, müßte man zu einigen Spoilern greifen, und damit täte man einem Roman unrecht, in dem – so viel sei verraten – nicht jedes Rätsel eine Lösung findet, oder besser gesagt: Nicht jede Lösung ein Rätsel abschließt. In einem der letzten Sätze des Romans heißt es: „We are all philosophers here where I am.“ Das ist, über den Kontext der Erzählung hinaus, vielleicht auch ein adäquates Fazit für ein Buchs, in dem es darum geht, wie wir den Ort, an dem wir uns befinden, und die Objekte und Phänomene um ihn herum organisieren.
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