Man fährt durch eine idyllische Landschaft, um zum IG Metall Bildungszentrum in Sprockhövel zu kommen. Die „größte gewerkschaftliche Bildungsstätte der Welt“ (laut Wikipedia) liegt weitab von Gewerbe- und Industriegebieten, inmitten sanft gewellter Hügel, umgeben von viel Wald, Feldern und ein paar dörflichen Ansiedlungen. Das Bildungszentrum ist, trotz seiner beachtlichen Ausmaße („29.423 m² auf zwei Etagen“) ein erstaunlich unauffälliges Gebäude: Es ist niedriger als die Baumkronen des Waldes, der es umgibt, und man sieht es erst im buchstäblich letzten Moment der Anfahrt, wenn die kleine Zufahrtsstraße auf den Parkplatz davor einschwenkt. Mit seinem nüchternen und funktionalen Design gleicht es vielen, x-beliebigen Schul-, Verwaltungs- oder Sparkassengebäude in Deutschland.
Die Größe erschließt sich erst, wenn man einmal um das Gebäude herumspaziert. (Sofern man nicht vorher schon einen Blick auf das Satellitenbild geworfen hat.) Die versteckte Lage und die zurückhaltende Gestaltung geben dem Bau etwas Konspiratives, weniger in einem verschwörerischen, eher in einem klösterlichen Sinn. Die Landschaft ringsherum spielt nur eine sekundäre Rolle. Der Wald ist eine grüne Mauer, die Abgeschiedenheit und Ruhe bietet, um sich auf das zu konzentrieren, was hier drin als wesentlich gilt.
Bald wird der Bau jedoch Vergangenheit sein: Das Gebäude soll Ende des Jahres abgerissen werden. „Das alte Haus hat schon einige Jahre auf dem Buckel und seine Energiebilanz ist nicht mehr zeitgemäss“, schreibt die Website der IG Metall. Der Neubau, der an seine Stelle tritt, wird wesentlich bescheidenere Ausmaße haben und auch nicht mehr als Bildungszentrum, sondern als Bildungsstätte geführt: „Wir werden kleiner – aber neuer …“, sagt die Gewerkschaft.
Kleiner, aber neuer. Als das Bildungszentrum 1968 eingeweiht wurde, galt es nicht nur als eine der größten, sondern auch als eine der modernsten Bildungseinrichtungen einer Gewerkschaft. Die Arbeiterschaft an Bildung und Kultur heranzuführen, zu „politischer Kritik und Aktivität“ zu befähigen, „die Gewerkschaft und die Kollegen als gesellschaftspolitische Gegenkraft auszubilden [und] mit eigenständiger politischer Denkkraft auszustatten“ – das war das zentrale Anliegen, das die Verantwortlichen der IG Metall mit dem Bau des Bildungszentrums umsetzen wollten.
Zu diesen Verantwortlichen gehörte Heinz Dürrbeck, damals Vorstandsmitglied und verantwortlich für die Jugend- und Bildungsarbeit. Die Gewerkschaften müssten als „Bildungsmacht in einer bildungsfeindlichen Gesellschaft“ etabliert werden, forderte Dürrbeck, „Zum glücklichen, zum wahrhaft menschlichen Leben“ gehörten „auch die Erweiterung des geistigen Horizonts, die Fähigkeit, Bescheid zu wissen und mitreden zu können in Dingen des Lebens und der Politik, teilnehmen zu können an den Ergebnissen der Wissenschaft und Kunst“. Und er zitiert den Freiligrath’schen Vers: „Der Feind, den wir am meisten hassen […]/Das ist der Unverstand der Massen“.
Trotz seiner zurückhaltenden und funktionalen Gestaltung ist Sprockhövel ein durchaus selbstbewusstes Gebäude: Ein Bekenntnis zur Modernität der gewerkschaftlichen Ambitionen und zur breitflächigen Durchsetzbarkeit des Bildungsprogramms. Hier sollte Platz geboten werden für „hunderttausend Kolleginnen und Kollegen“, um sich – unbeeinflusst von den „bildungsfeindlichen Grundstrukturen“ und Ablenkungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems – mit den wesentlichen „Dingen des Lebens und der Politik“ auseinanderzusetzen. Das Gebäude inszeniert keine Hierarchie, sondern breitet sich relativ gleichmäßig in die Fläche aus, als sollte allen Bereichen, in denen hier geschult und weitergebildet wurde, die gleiche Bedeutung zugesprochen werden.
Das Selbstverständnis der Gewerkschaft hat sich freilich spätestens seit den Neunziger Jahren gewandelt, statt einer progressiven Kraft gesellschaftlicher Veränderung sieht man sich eher als Reformpartner. Die umfassenden Bildungsideen von „Alt-Marxisten“ wie Dürrbeck gelten nicht mehr als zeitgemäß, inzwischen verfolgt man eher „modulare“ Konzepte, die mehr Wert auf die Schulung von Funktionären legen als auf eine umfassende Bildung der gewerkschaftlichen Basis. selbst wird schon Mitte der Siebziger geschasst, und seine Biographie endet in einer seltsamen Kriminalgeschichte: Er wird wegen Spionageverdachts verhaftet, geht ins Ausland, wird später ein zweites Mal verhaftet und stirbt 2001 in Budapest. Ich kenne die Details dieser Geschichte nicht und auch nicht die Hintergründe dieser Verdächtigungen (zu einer Verhandlung kommt es jedenfalls in keinem Fall), aber sein Rückhalt in der IG Metall scheint zu dieser Zeit nicht mehr groß gewesen zu sein. (Ein paar Informationen, aus einer mit Dürrbeck sympathisierenden Perspektive, gibt es hier.)
Nun verschwindet auch das Gebäude, das er auf den Weg gebracht hat. Es mag einige geben, die es ohnehin schon als einen Dinosaurier gesehen hatten, ein Relikt aus einer Zeit, die man überwunden glaubt. Zum Areal des Bildungszentrums gehört übrigens auch eine kleine Wohnsiedlung, die ein Stückchen oberhalb des Komplexes liegt: Ganz nette, freilich etwas biedere Doppelhäuschen, einige scheinen allerdings schon seit einiger Zeit leer zu stehen. Hinter den Fensterscheiben sind Friedhöfe toter Fliegen entstanden, zu Hunderten liegen die Kadaver über Fensterbrettern und Bodenfliesen verstreut. Möglicherweise kommt auch hier bald die Abrißbirne zum Einsatz.
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