In der amerikanischen Presse wird zur Zeit ein wenig abgelästert über Probleme des Pariser Bike-Sharing-Programms Vélib‘: Vandalismus und Diebstahl sorgten für erhebliche Einbussen, schreibt die New York Times, 80 Prozent der ca. 20.000 Mieträder seien bereits innerhalb eines Jahres defekt oder gestohlen gewesen, etwa 1.500 Räder müssten täglich repariert werden. Die Story wird in einigen US-Medien mit einer gewissen Süffisanz kommentiert – möglicherweise eine Art vorgezogener Backlash, weil auch in vielen US-Städten ähnliche Programme aufgelegt werden oder in Planung sind.
Ganz neu ist die Geschichte freilich nicht: In französischen Medien wurde schon Anfang des Jahres über den Vélib‘-Vandalismus berichtet. Da wurden die hohen Zahlen beschädigter und gestohlener Fahrräder allerdings auch in einen anderen Kontext gestellt: Vélib‘-Betreiber JC Decaux verhandelte nämlich mit der Stadt Paris über neue und bessere Vertragskonditionen. Das Argument, dass die hohen Kosten, die durch Reparaturen und Ersatz verursacht wurden, weit höher waren als ursprünglich mal angenommen, spielte da eine wichtige Rolle. Die Wirtschaftszeitung Les Echos, monierte freilich eine „Intransparenz der Statistiken“: „Es ist schwierig, die Zahlen, die von der Betreibergesellschaft in Sachen Vandalismus übermittelt werden, zu überprüfen“, zumal sich die Stadt Paris allenfalls „mit Zufallskontrollen begnügt“.
Das Verhandlungsklima soll auch durchaus angespannt gewesen zu sein, aber am Ende blieb Paris nicht viel anderes übrig als Decaux einige Zugeständnisse zu machen. Schließlich ist Vélib’ ein Prestigeprojekt, und ein äußerst populäres noch dazu: Schon im ersten Jahr nach der Einführung 2007 gab es fast 200.000 Abonnenten und 26 Millionen Vermietungen. Die Absicht, Paris als fahrradfreundliche Stadt zu positionieren und die Verkehrsinfrastruktur zu entlasten, stößt bei einem großen Teil der Bevölkerung (und der Touristen) auf gute Resonanz.
Zu Decaux als Betreiber gibt es außerdem kaum eine Alternative: Das Unternehmen ist in Frankreich deutlicher Marktführer für diese Art von Fahrradverleihsystemen und auch in den beiden anderen großen Metropolen des Landes, in Lyon und , für die städtischen Bike-Sharing-Programme verantwortlich. Der einzige größere Mitbewerber, Clear Channel, hat nur ein paar Kommunen aus der zweiten Reihe auf seiner Referenzliste (Caen, Dijon, Perpignan, Rennes).
Aber wie immer man die Verhandlungsstrategie von Decaux auch interpretieren mag: Der Vandalismus ist tatsächlich ein ernsthaftes Problem. Auch deshalb, weil er etwas mit der Frage zu tun hat, für wen die Infrastruktur einer Kommune gestaltet werden, und wie sich die Bürger damit identifizieren. Le Monde etwa hat bereits eine soziologische Interpretation des Vandalismus versucht:
Gestohlen werden nicht nur ein Rahmen und zwei Räder, sondern eine urbane Ikone, ein Attribut des bobo, eine Gestalt, die verspottet, aber auch beneidet wird.
Der bobo, das ist der bourgeois-bohème, also ein Angehöriger des gut verdienenden, gebildeten Bürgertums, das Houellebecq liest, Arte guckt und koreanisches Kino mag (wie es in einem Chanson von Renaud heisst). In etwa also der Typ Mensch, für den sich im Neudeutschen das englische Akronym LOHAS einbürgert und der nicht nur für Marketing und Konsumgüterindustrie eine begehrte Zielgruppe darstellt, sondern auch für die Wirtschaftsplaner und Tourismusverantwortlichen der Kommunen. 69 Prozent der Vélib’-Nutzer gehören laut Le Monde zu der Kategorie, die in Frankreich als CSP+ bezeichnet wird, zur catégorie socio-professionelle der Besserverdienenden.
Das Vélib’ gelte vor allem als „Fetisch der Bobos“, sagt Le Monde, und impliziert damit, dass die übrige Pariser Bevölkerung dem Leihrad eher mit Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Aversion gegenüber steht. Der Soziologe Bruno Marzloff (durchaus ein Vélib’-Fan) sieht gar einen Zusammenhang mit den wiederkehrenden Ausschreitungen in den Banlieues, mit den Autos, die dabei angezündet werden, und interpretiert den Vandalismus als „eine Art Rebellion“.
Er bedeutet: Wie haben nicht das gleiche Recht auf Mobilität wie andere Leute. Für uns ist es äußerst stressig, nach Paris zu kommen, wir haben keine Autos, und selbst wenn wir welche haben, ist die Strecke zu teuer und zu weit.
Auf städtischer Seite ist man allerdings bemüht, soziologischen Interpretationen nicht zu viel Gewicht beizumessen und sieht den Vandalismus als Problem von Kriminalität und Schludrigkeit im Allgemeinen. Abhilfe verspricht man sich vor allem durch eine Kombination von technischen Verbesserungen und gezielter Öffentlichkeitsarbeit. Aber auch das zeigt ja nur, dass Sinn und Zweck eines solchen öffentlichen Angebots sich nicht von selbst verstehen, sondern offenbar erklärt werden müssen.
In gewissem Sinn haben die Verantwortlichen der Fetischisierung des Vélib’ durchaus selbst Vorschub geleistet. Es ist ja bewusst als Fetisch, als Symbol eines neuen Verständnisses von Urbanität gestaltet worden – vielleicht nicht gerade hübsch, aber unverwechselbar, weil eigens für diesen Zweck entwickelt und sogar mit dem Etikett einer renommierten Marke (Mercier) versehen. Das Vélib’ ist eine Facette der Marke „Paris“ – insofern ist es nicht ohne Folgerichtigkeit, wenn ihm Ähnliches passiert wie anderen Fetischen der Markenwelt auch: Man muss ihn ja nicht gleich demolieren, sondern man kann einen Fetisch auch zweckentfremden (wie z.B. manche BMX-Crews, die ausprobieren, wie gut sich Vélib’s für verschiedene Kunststücke eignen, ähnlich wie Parkoureure ausprobieren, was man mit Treppengeländern und Brüstungen alles machen kann). Oder man kann ihn als Trophäe nach Hause mitnehmen – einige Räder aus Paris sind schon in Osteuropa oder Asien aufgetaucht. (Die Pendants aus Lyon sind zum Beispiel weniger begehrt und landen eher beim Altmetallhändler.)
Mit der Nachhaltigkeit ist das übrigens so eine Sache: Mercier gehört zur niederländischen Accell-Gruppe, die u.a. auch die deutschen Marken Hercules und Ghost besitzt. Die Vélib’-Fahrräder werden in Ungarn produziert, bei Stundenlöhnen von knapp 2 Euro. Um so erstaunlicher, dass ein einzelnes Fahrrad bis zu 3.000 Euro kosten soll. Zumindest ist das der Preis, den die NY Times nennt, es gibt auch einige niedrigere Angaben. (Die Call-A-Bike-Räder, die die Deutsche Bahn einsetzt, kosten etwa 700 Euro ohne Elektronik). Der Verband französischer Nahverkehrsunternehmen (GART) hat eine Studie veröffentlicht, in der die operativen Kosten für ein Programm wie Vélib’ auf 2.000 bis 3.000 Euro pro Jahr und Rad veranschlagt werden.
Das ist viel Geld, und rechnen kann sich so ein Konzept nur dann, wenn die Auslastung optimal ist, der Service exklusiv angeboten werden und/oder durch andere Aktivitäten querfinanziert werden kann. (Decaux beispielsweise hat für die Übernahme des Vélib‘-Betriebs die exklusive Vermarktung von ein paar hundert Werbeflächen in Paris zugestanden bekommen.) Das schafft neben den Kosten auch problematische Abhängigkeiten zwischen Betreibern und Kommunen. Es gibt durchaus günstigere Alternativen – die GART-Studie nennt ein paar Beispiele aus französischen Städten.
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