Die luft’ge Moschee


und bin ich des Griechischen müde
mich lockt die luft’ge Moschee
und ich klage den maurischen Blumen
mein europäisches Weh

Bemerkenswert, dass Gottfried Keller ausgerechnet die Moschee als locus amoenus beschreibt, als luftiges und blumendurchwirktes Idyll, an dem man übers „europäische Weh“ erhoben werden kann. Vor allem, wenn man daneben die aktuelle Optik derjenigen seiner Landsleute setzt, die Moscheen nur noch als Abschussrampen minarettförmiger Marschflugkörper sehen wollen.

Bemerkenswert ist das natürlich nur, wenn man vergisst, dass die Literatur des 19. Jahrhunderts durchaus noch einen anderen Blick auf den Islam und die arabische Welt kannte. Einen Blick, der nicht ganz frei war von exotischer Verklärung – der Orient als Heimat einer verspielten und ornamentreichen Ästhetik, die man der kühlen Rationalität der aufkommenden Moderne entgegen setzen konnte – der aber immerhin noch für den Willen steht, sich mit diesem exotischen Anderen auseinanderzusetzen.

Kellers Verse stammen aus einem frühen Gedicht von 1844. Aus der Zeit also, in der er seine Pläne aufgab, sich als Landschaftsmaler zu etablieren, und stattdessen seinen „großen Drang zum Dichten“ entdeckt hatte, aber noch nicht ganz seinen eigenen Ton. Es ist ein romantisches Wanderlied, und die Moschee ist nur eines von vielen Elementen, denen der Wanderer auf seinem Weg begegnet – Mobiliar eines vielfältigen Universums, in dem auch Platz für dorische Tempel und phantastische Dome ist:

Nun will ich gehn u wandern
früh bis zum Abend spät
so weit auf dieser Erde
die Sonne mit mir geht!

Ich nehme nichts mit, als den Becher,
mein leichtes Saitengetön,
ich wundre mich über die Maßen
wie’s überall so schön!

Die Ebne ist oft schöner
als meine Berge noch
und wo kein blauer Himmel,
giebts rothe Wolken doch.

wo keine schmachtenden Lotos
wächst blühendes Haidekraut
wo keine phantastischen Dome
sind dorische Tempel gebaut

und bin ich des Griechischen müde
mich lockt die luft’ge Moschee
und ich klage den maurischen Blumen
mein europäisches Weh

Hallo du muntrer Jäger
Sag‘ an du Fischer traut
hast du, o stiller Fischer
mein Liebchen nicht geschaut?

mein Liebchen ist die Freiheit
ich suche sie kreuz u quer
sie ist doch nicht ertrunken
im alten falschen Meer?

O wenn ich dieses wüßte,
mich faßt ein kalter Graus
ich stieße meinem Schifflein
den morschen Boden aus!

Das Wandern der Romantik ist eine promiske Beschäftigung, keine systematisierende Tätigkeit: Was die Welt ausmacht, ist gerade ihre Vielfältigkeit und Mannigfaltigkeit, und jedes Element hat schon deshalb eine Existenzberechtigung, weil es als schön erlebt werden kann – die Ebenen genauso wie die Berge, der blaue Himmel und die roten Wolken, der „schmachtende Lotos“ und das „blühende Haidekraut“, der griechische Tempel und die orientalische Moschee. Freiheit entsteht dort, wo diese Vielfältigkeit angenommen und aktiv gesucht werden kann und nicht vom „alten falschen Meer“ reaktionärer, konservativer und klerikaler Borniertheit ertränkt wird.

In seinem Romanen und Erzählungen hat Keller dieses romantische Ideal eines ungebundenen Umherschweifens relativiert. Vom Grünen Heinrich bis zum Martin Salander geht es immer wieder darum, wie man von schwärmerischer Theorie zu politischer Praxis kommt. Freiheit ist die Möglichkeit, sich als Teil der Gesellschaft begreifen und engagieren zu können. Patriotismus ist dabei durchaus eine bürgerliche Aufgabe: „Achte jedes Mannes Vaterland, aber das deinige liebe!“, heißt es programmatisch im Fähnlein der sieben Aufrechten. Aber diese Vaterlandsliebe ist nicht etwas, das angeboren oder ererbt wird und sich quasi von selbst versteht, sondern sie muss im Alltag durch aktives politisches Engagement immer wieder gelebt werden, so wie von den sieben Handwerkern in ihrem „namen- und statutenlosen Verein“. Das Vaterland ist nichts Fertiges, sondern eine patrie à faire.

Sicher hat dieser politische Patriotismus Kellers seine Begrenztheiten. Es gibt schädliche Einflüsse von innen und außen, vor denen das Eigentümliche und Besondere des „Schweizertums“ geschützt werden muss: „Vom Gotthard weht ein schlimmer Wind:/Sie kommen, die Jesuiten!“. Aber im erzählerischen Werk sind politische und weltanschauliche Differenzen kaum noch eine Bedrohung: Wenn hier destabilisierende, „unschweizerische“ Elemente auftreten, dann sind sie oft ökonomisch konnotiert und resultieren aus der Dynamik eines immer globaleren Wirtschaftssystems, das auf lokale Besonderheiten keine Rücksicht nimmt. Das Gegenmodell zur freiheitlichen, politisch engagierten und vaterlandsliebenden Gesellschaft liefern Gestalten wie der großkotzige Immobilienspekulant Ruckstuhl im Fähnlein oder die „Baumwollenen“, die international agierenden Textilfabrikanten im Martin Salander:

Allein trotz alledem klebt einmal von ihrer Pflanzstätte jenseits des Ozeans bis zur drehenden Spindel und zum Druckertisch am Schweizerwasser etwas spezifisch Verhängnisvolles an der Baumwolle, das auf die politischen und menschlichen Anschauungen derer, die mit ihr zu schaffen haben, einen unleugbaren Einfluß behauptet und mit dem innern Leben eines tiefer gefaßten Patriotismus, einer gründlichen Humanität oft genug in Widerspruch gerät.

Im Gegenzug macht Keller die Vielfalt an religiösen, politischen und sozialen Vorstellungen zum Wesensmerkmal einer lebendigen, demokratischen Gesellschaft. Im Fähnlein entwirft er ein geradezu multikulturelles Panorama der Schweiz: Auf dem Festakt, der den Höhepunkt der Geschichte bildet, treffen sich die unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Gesellschaftsschichten und feiern ihre Unterschiedlichkeit.

Ei! was wimmelt da für verschiedenes Volk im engen Raume, mannigfaltig in seiner Hantierung, in Sitten und Gebräuchen, in Tracht und Aussprache! Welche Schlauköpfe und welche Mondkälber laufen da nicht herum, welches Edelgewächs und welch Unkraut blüht da lustig durcheinander, und alles ist gut und herrlich und ans Herz gewachsen; denn es ist im Vaterland! […]

Wie kurzweilig ist es, daß es nicht einen eintönigen Schlag Schweizer, sondern daß es Zürcher und Berner, Unterwaldner und Neuenburger, Graubündner und Basler gibt, und sogar zweierlei Basler! Daß es eine Appenzeller Geschichte gibt und eine Genfer Geschichte; diese Mannigfaltigkeit in der Einheit, welche Gott uns erhalten möge, ist die rechte Schule der Freundschaft, und erst da, wo die politische Zusammengehörigkeit zur persönlichen Freundschaft eines ganzen Volkes wird, da ist das Höchste gewonnen; denn was der Bürgersinn nicht ausrichten sollte, das wird die Freundesliebe vermögen, und beide werden zu einer Tugend werden

Das Happy End im Fähnlein wird möglich, weil alle Protagonisten nicht nur Vielfalt, sondern auch Dynamik und Veränderung in ihrem Umfeld zu akzeptieren lernen. Ob Keller auch Minarette als Herzgewächse des Vaterlands gesehen hätte, lässt sich nur spekulieren. Aber es spricht doch einiges dafür, dass er „Bürgersinn“ und „Freundesliebe“ zugetraut hätte, sie als Elemente einer „Mannigfaltigkeit in der Einheit“ zu begreifen und konstruktiv damit umgehen zu können. Dass eine luft’ge Moschee durchaus ihren Reiz haben kann, haben wir ja oben gesehen.

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