Gestern war der Tag des Still-Lebens Ruhrschnellweg, des Über-Events im Kulturhaupstadtjahr, und nach dem Strecken-Scouting im Frühjahr war es natürlich selbstverständlich, sich das aus der Nähe anzusehen. Normalerweise bin ich für solche Megaveranstaltungen nicht zu haben, aber in diesem Fall ging es immerhin um ein sozusagen offiziell ausgerufenes Usurpieren öffentlichen Raumes, und zwar nicht nur eines kleinen Fleckchens, sondern ganzer sechzig Kilometer davon. Also nichts wie hin.
Das Hinkommen war allerdings nicht so einfach. Wenn es an diesem Tag einen großen Verlierer gab, den die Veranstaltung offenbar völlig überforderte, dann war das leider mal wieder die Deutsche Bahn. Für den „offiziellen Mobilitätspartner“ von Ruhr.2010 kam der Andrang offenbar unerwartet, jedenfalls waren die Züge hoffnungslos überfüllt. Ebenso überrascht war man offenbar davon, dass viele die gesperrte Autobahn mit Fahrrädern, Skates, Rollstühlen und Kinderwagen besichtigen wollten. Passagiere, die damit einsteigen wollten, wurden teilweise einfach stehen gelassen. Sonderzüge oder zusätzliche Wagen mit mehr Platz standen wohl nicht zur Verfügung. Bei der Bahn wird es scheint’s zur Regel, dass sie bei allen besonderen Anforderungen kapitulieren muss: Wenn es zu kalt wird, fallen Heizungen aus, wenn es zu heiß wird, die Klimaanlage, und wenn es zu voll wird, bleiben die lästigen Passagiere einfach auch mal draußen. (Ein Schaffner erklärte mir, es habe sogar eine Anweisung gegeben, Fahrräder grundsätzlich nicht mitzunehmen. Sollte das stimmen, wäre das doch arg peinlich. Könnte aber was dran sein, denn auf ihrer Website macht die Bahn zwar eifrig Werbung mit dem Fest, muss aber gleichzeitig – wenn auch nur versteckt im letzten Absatz – einräumen, dass „die Mitnahme von Fahrrädern in Bussen und Bahnen leider auf Grund der zu erwartenden Auslastung nicht möglich“ ist.)
Etwas Chaos gab es auch bei der Ankunft in Duisburg, wo die Ordner an der Auffahrt „DU-Hafen“ die Radfahrer nicht auf die Autobahn lassen wollten. Begründung: Die Strecke sei überlastet. Einige wilde Gerüchte machten die Runde („Alles komplett überfüllt! Die Leute stehen eng gequetscht bis Dortmund!“), und der eine oder andere angereiste Tourist, der mal so richtig mit dem Rennrad die Autobahn entlangheizen wollte, zog ein langes Gesicht. Nun, warum sollten nicht auch die Radfahrer mal herausfinden, warum die A40 als längste Standspur Deutschlands gilt? Aber es war alles halb so wild, von außen konnte man sehen, dass der Verkehr durchaus floß, wenn auch eher gemächlich, und man muss ja nicht die Auffahrt nehmen, um auf die Autobahn zu kommen, da gibt’s auch noch andere Möglichkeiten. (Der Anblick Dutzender Familienväter, Rentner und anderer Touristen, die mitsamt Fahrrad Böschungen hinauf und über Leitplanken hinüber klettern, um sich ihren Tag auf der Autobahn nicht nehmen zu lassen, gehörte zu den amüsantesten Momenten dieses Tages.)
Und insgesamt war es tatsächlich eine überraschen angenehme und entspannte Veranstaltung. Was bei einem Event, das drei Millionen Menschen auf die Straße bringt, nun wirklich nicht selbstverständlich ist. Zu besichtigen und mitzuerleben war aber eine ganz angenehme Art von Anarchie, ein nur mäßig kontrolliertes Chaos und ein nicht wirklich strukturiertes, aber vielleicht gerade deshalb ganz lebendiges Nebeneinander von, nun ja, Allem Möglichen und Jedem und Allem. Dass so eine große Menschenansammlung tatsächlich einigermaßen friedlich und gut gelaunt miteinander feiern kann, hat etwas Ermutigendes.
Ob das wirklich der von Fritz Pleitgen herbeigewünschte „Gründungsmoment einer Metropole Ruhr“ ist, lass ich mal dahingestellt. Zu den interessantesten Aspekten des Fests gehörte meinem Eindruck nach gerade der, dass es keinen Mittelpunkt gab und kein Leitmotiv, das für alle verpflichtend war, oder wenn doch, gab es zumindest einen recht allgemeinen Willen, sich das egal sein zu lassen und einfach Spass zu haben. Selbst die paar Firmen, die sich als Platzhirsche geben wollten und große Bereiche als zugesponsorte Flächen beanspruchten, mussten sich damit abfinden, das es auf einer Autobahn schwierig ist, eine Hierarchie zu behaupten – ein Nebeneinander ergibt sich da quasi von selbst, und auch die Pfadfindergruppen, Blaskapellen, Sportvereine und Kirchengemeinden bekamen ihr Maß an Aufmerksamkeit.
Natürlich gab es hier und da ein paar Aufmerksamkeitsknäuel, wo sich dann auch der Fluß des Pelotons aus Radfahrern und Skatern staute, wie zum Beispiel in Essen, wo das Straßen- zu einem großen Innenstadtfest geraten war. Aber selbst diese Momente wurden erstaunlich gutmütig hingenommen.
Die schönste Zeit des ganzen Fests kam aber, würde ich sagen, nach 17.00, als das Programm offiziell beendet war und die Aufräumarbeiten begannen. Die Autobahn leerte sich nur allmählich: Fast hatte man das Gefühl, die Menschen wollten die Straße gar nicht mehr hergeben. Noch lange nach sieben Uhr waren vereinzelte Radfahrer und Spaziergänger auf der Strecke unterwegs, und Dutzende Menschen standen auf den Brücken, um die leere Autobahn zu filmen, zu fotografieren oder einfach nur wie ungläubig zu betrachten. Ich würde mich nicht wundern, wenn man diese Zeit in den Wohngebieten links und rechts der Autobahn am meisten genossen hat: Jetzt war es wirklich für ein paar Stunden so ruhig wie vermutlich nirgendwo sonst im ganzen Ruhrgebiet, und den Menschen, die man neben der Strecke durch Grünanlagen und Felder spazieren sah, war anzumerken, wie kostbar ihnen diese Momente waren.
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