Der Guardian berichtete kürzlich von einem bemerkenswerten Projekt aus London: Eine Bürgerinitiative ermuntert Obdachlose dazu, sich als Stadtführer zu versuchen.
Our Unseen Tours bring you an entertaining and poignant walk with trained homeless guides, offering you a historical but also unexplored perspective of the city, as perceived through the lens of homelessness. Uniquely, the tours interweave the guides‘ own stories and experiences, introducing a new social consciousness into commercial walking tours.
Die Mitglieder des Sock Mob, der Initiative hinter der Idee, besuchen schon seit einigen Jahren Obdachlose, bringen Essen und warme Socken mit und lassen sich dafür im Gegenzug Geschichten erzählen. Dass diese Geschichten auch eine andere Perspektive auf die Stadt bieten und im Kanon städtischer oral histories zu Gehör gebracht werden sollten, ist eine ebenso naheliegende wie sympathische Idee. Interessant genug, um Lidija Mavra, einer der Initiatorinnen des Projekts, ein paar Fragen zu stellen, die sie netterweise auch prompt beantwortet hat.
Was mir an Eurem Projekt am besten gefällt, ist der Aspekt der Gegenseitigkeit: Der Sock Mob spendet nicht nur ein paar nützliche Dinge, sondern lässt sich dafür Geschichten erzählen. Wie wichtig ist diese Idee der Reziprozität für Euch?
Sehr wichtig. Ich würde sogar sagen, das ist das zentrale Ethos des Sock Mob. Es geht nicht nur um Hilfe für Obdachlose, sondern darum, viele Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen zusammenzuführen. Jeder bringt etwas mit, was geteilt werden kann und was sich als Basis für Kontakte eignet, ohne dass man dafür eine bestimmte Agenda bräuchte.
Wie viel Aufwand ist nötig, um so ein Projekt ans Laufen zu bekommen?
Was den Sock Mob angeht, der war quasi ein Selbstläufer. Es ist ein sehr organisches Projekt und fußt allein auf dem Willen und der Spontaneität der Menschen, die dahinter stehen. Eine übermäßige Kontrolle oder Strategie braucht es dafür nicht. Wir möchten, dass das Projekt und die damit zusammenhängenden Aktivitäten ganz im Einklang mit den Wünschen und Lebenswirklichkeiten der Menschen stehen, die es angeht. Etwa wie die Fotoausstellung Sock And The City: Da haben wir unseren obdachlosen Freunden einfach ein paar Kameras gegeben, damit sie Bilder von sich und ihrem Umfeld machen konnten.
Die Stadtführungen selbst sind allerdings ein wesentlich strukturierteres Projekt, schon deshalb, weil sie unter dem Dach eines social enterprise [d.h. eines Unternehmens mit sozial ausgerichtetem Unternehmenszweck] angeboten werden und somit eine Dienstleistung darstellen. Zwei Koordinatoren waren im wesentlichen für die Konzeptentwicklung der Touren verantwortlich, für das Coaching der Stadtführer, das Training der ehrenamtlichen Helfer, die Kommunikation mit den Medien, die administrative Seite und so weiter. Ich möchte aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass jeder Aspekt der Stadtführungen gemeinsam mit den Führern, den ehrenamtlichen Helfern in den Sock Mobs und der kritischen Unterstützung von Freunden entwickelt wurde. Anders gesagt: Wir haben im Grunde nur dazu eingeladen, Ideen, konstruktive Kritik und sonstige Hilfe einzubringen, und wir hatten das Glück, dass viele Antworten kamen.
Was die praktische Umsetzung angeht: Mit der Planung der Stadtführungen haben wir haben vor etwa sechs Monaten begonnen. Vor drei Monaten wurden die Stadtführer ausgesucht und zwei Mal pro Woche trainiert. Die Stadtführungen sind momentan [d.h. während des gerade beendeten London Fringe Festivals] sehr intensiv: Wir haben pro Abend zwei Touren, und das fünf Mal die Woche. Bei jeder Tour sind zwei freiwillige Helfer dabei, als Ansprechpartner und für das Feedback. Das alles benötigt natürlich einen gewissen logistischen Aufwand.
Worauf wird im Training besonders Wert gelegt?
Das wichtigste ist es, den Wunsch der Stadtführer nach Kontakt und Dialog zu bestärken und ihnen zu helfen, ihre Geschichten vermitteln zu können. Wir unterstützen sie auch in der Recherche historischer Details und Hintergründe. Gut ist es natürlich, wenn sie selbst eine gewisse Energie, Eigeninitiative und Verlässlichkeit mitbringen.
Warum ist es wichtig, die Geschichten obdachloser Menschen hör- und sichtbar zu machen?
Es hilft, die gefährlichen Stigmatisierungen und Vorurteile zu durchbrechen, mit denen Menschen auf der Straße oder in prekären Wohnverhältnissen oft behaftet sind. Diese Vorurteile machen sie zur Zielscheibe von Misshandlungen und Vernachlässigung, und das kann wiederum zu selbstzerstörerischem Verhalten ihrerseits führen. Das alles entfremdet sie vom Arbeitsmarkt und vereitelt ihre Chancen, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.
Die Stadtführungen sind aber nicht nur für die Obdachlosen von Bedeutung, sondern auch für die Teilnehmer und die freiwilligen Helfer. Sie machen sichtbar, welche sozialen Prozesse die Verhaltensweisen und Lebensbedingungen von Menschen beeinflussen, ohne von ihnen kontrolliert werden zu können.
Das Erzählen von Geschichten ist außerdem eine alte Methode, um Menschen zusammenzuführen und über das gemeinsame Zuhören eine Identität zu stiften. Das ist wichtig, wenn man die Kultur der Angst vor dem Anderen, die es in vielen Städten gibt, durchbrechen will. Und es trägt hoffentlich dazu bei, etwas mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge in der städtischen Gesellschaft zu verankern.
Stadtführungen sind ein hervorragendes Medium, um unterschiedliche Perspektiven auf eine Stadt zu kommunizieren – auch in Deutschland gibt es das ein oder andere Projekt, etwa Führungen von Migranten, Mitgliedern religiöser Minderheiten oder ähnliches. Steht hinter der Arbeit des Sock Mob auch eine Art „urbanistische“ Vision?
Ich denke, solche Führungen sind eine fantastische Idee und ich würde gerne mehr über deutsche Beispiele hören. Die Stadt, besonders der Aspekt sozialer Gerechtigkeit im urbanen Raum, spielt in der Tat eine zentrale Rolle für uns. Wir wollen die Stadt aus einer anderen Perspektive zeigen: Nämlich aus dem Gesichtspunkt derjenigen, die sie vermutlich am besten kennen, weil sie das physische Geflecht der Stadt – ihre Straßen und Außenflächen – zu ihrem Zuhause gemacht haben. Die Stadt kann auch ein Schmelztiegel für positive soziale Veränderungen sein – das ist jedenfalls unsere Hoffnung.
Obdachlosigkeit führt oft zu Unsicherheiten und Problemen im ganz alltäglichen gesellschaftlichen Umgang. Ich nehme an, das Projekt soll auch hier einen Beitrag leisten, indem Selbstbewußtsein und Stolz auf die eigenen Fähigkeiten bestärkt werden – die Verantwortung für einen Haufen neugieriger Leute zu übernehmen, ist ja keine kleine Leistung. Gibt es eine Art von Begleitung und Feedback?
Du triffst den Nagel auf den Kopf, das ist eines unserer zentralen Anliegen: Das Selbstbewußtsein unserer Stadtführer zu stärken und ihnen dabei zu helfen, Verantwortungsgefühl zu entwickeln. Wir haben aber keine formalen Strukturen im Sinne eines Monitoring. Ein Projekt dieser Art sollte unserer Auffassung nach flexibel und offen für Veränderungen bleiben und nicht zu rigide durchgeplant werden. Darum scheint uns informelles Feedback, das sich aus dem persönlichen Kontakt zwischen Stadtführern und Helfern entwickelt, am besten geeignet. Aber natürlich sprechen wir regelmäßig mit unseren Führern, vor und jeder Tour, um ihre Meinungen anzuhören und mögliche Probleme durchzuarbeiten. Wir hören uns auch an, welches Feedback die Teilnehmer der Führungen geben, und besprechen es mit den Führern in einer konstruktiven Weise. Am Ende sollen beide Seiten von einander lernen und stolz auf das sein können, was wir in Anbetracht der nicht gerade einfachen Umstände erreicht haben.
Die Stadtführung sollen mehr als ein einmaliges Projekt sein, sondern nachhaltig aufgebaut werden, heißt es im Guardian. Wie kann diese Nachhaltigkeit erreicht werden?
Die Teilnehmer bezahlen Eintritt für die Führungen; in der Pilotphase sind das 5 Pfund pro Kopf. Das meiste davon geht an die Führer, der Rest ist für die Deckung unserer Kosten und für das Training weiterer Stadtführer gedacht. Unser Wunsch ist es, das Projekt auf stabile Füße zu stellen, damit wir unseren Führern einen verlässlichen Verdienst bieten und die Auslagen unserer Freiwilligen bezahlen können.
Ein bisschen paradox ist ja, dass man die Stadtführer dadurch aus dem Teufelskreis herausführt, von dem sie eigentlich berichten sollen, und ihnen sozusagen die Grundlage entzieht, auf denen ihre Arbeit beruht.
Absolut, aber das ist natürlich ein sehr notwendiges Paradox, das für alle sozialen Projekte gilt: Sie arbeiten im Grunde immer auf ihre eigene Abschaffung hin, denn die wäre der beste Beweis dafür, dass das jeweilige Problem gelöst ist. Viele Organisationen vergessen das, weil ihr eigenes Überleben plötzlich wichtiger wird als das Problem, dem sie sich widmen. Das Konzept des Sock Mob war es von Anfang an, die Betroffenen Zug um Zug selbst in die Verantwortung einzubinden. So kann sich das Projekt besser am tatsächlichen Bedarf entlang entwickeln oder vielleicht auch in anderen Städten aufgelegt werden. Und natürlich können unsere Stadtführer auch dann noch mitmachen, wenn sie nicht mehr obdachlos sind, aber trotzdem nicht so einfach an eine neue Arbeit kommen. Leider ist es ja so, dass es überall in der Welt Obdachlosigkeit gibt, und so lange sich die ökonomischen Bedingungen nicht ändern, wird sie wohl auch nicht so schnell verschwinden.
Nun könnte man vielleicht einwenden, dass diese Stadtführungen einer Art Romantik des Lebens auf der Straße Vorschub leisten und die „Authentizität“ der Obdachlosen als Kuriosum ausnutzen. Wäre das ein berechtigter Einwand?
Das wäre für mich keine überzeugende Kritik, denn sie geht völlig an unserer Philosophie und am Inhalt der Stadtführungen vorbei. Wie schon gesagt: Wir legen großen Wert darauf, die Führungen gemeinsam mit den Führern selbst zu entwickeln. Wir unterstützen sie in der Recherche wichtiger Details, und sie bringen ihre eigenen Geschichten und Erfahrungen mit ein. Die kann man nicht erfinden. Wie die Stadtführer die Stadt und ihr Leben darin darstellen, liegt ganz bei ihnen – wir üben da keine Zensur aus. Wenn sie exotische oder romantische Elemente einbringen, dann entsprechen die auch ihrer eigenen Wahrnehmung. Und das kann für die Teilnehmer aufregend, kurios oder interessant sein, je nach dem.
Nicht jeder Obdachlose wird als Führer arbeiten können. Was könnte man sonst noch tun, um Obdachlose und ihre Geschichten in der Stadt präsenter zu machen?
Gute Frage. [Die Zeitschrift] The Big Issue, die von Obdachlosen selbst verkauft wird, hat ein gutes Modell umsetzt. Es gibt auch viele Kunst-, Theater- und Musikprojekte, die Obdachlosen Arbeits- und Weiterbildungsmöglichkeiten bieten. Ein großartiges Beispiel ist Southbank Mosaics, wo Obdachlose und ehemalige Strafgefangene Kunstwerke zur Stadtverschönerung produzieren. Aber wir freuen uns über jede gute Idee, auch aus Deutschland.
Vermutlich gab es viele bewegende Treffen mit Obdachlosen, aber gibt es eine Geschichte oder Erfahrung, die die Arbeit besonders beeinflusst hat?
Eines der schönsten Erlebnisse hatte ich in der Trainigsphase unserer Stadtführer. Da gab es einen, der hatte besonders viel Pech: Er wurde aus seiner Unterkunft geworfen und musste einige Nächte auf der Straße schlafen. In dieser Zeit wurde er auch noch ausgeraubt, brach sich zwei Rippen und blieb ein paar Tage im Krankenhaus. Als er entlassen wurde, hatte er immer noch starke Schmerzen. Aber er wollte unbedingt sein Trainingsprogramm absolvieren: Nur drei Tage nach der Entlassung lief er über eine Stunde mit mir durch die Stadt, zeigte mir Abschnitte, die er sich neu erarbeitet hatte und plauderte nebenbei noch mit mir über alles mögliche. Und das, obwohl es ihm ganz offensichtlich noch nicht wirklich gut ging. Aber er wollte unbedingt sein Wort halten und sich für die Führungen einsetzen. Das war sehr bewegend und hat uns auch in der Gruppe motiviert, das Programm zu einem Erfolg zu machen.
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Termine und weitere Informationen zum Sock Mob, den Unseen Tours und weiteren Aktivitäten gibt es hier und hier.
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