Ein Bild aus Zeiten, als die Atomenergie noch nützlich war. Ein bisschen ungebärdig war sie höchstens und nicht immer leicht zu kontrollieren, ansonsten aber grundsätzlich sympathisch, selbst wenn sie das Wasser im Meer zum Kochen brachte. Dann hatte man immerhin reichlich Fischfilet für die Strandparty mit Freunden (und hat die „Titanic“ nicht kürzlich sowieso geraten, dass man Sushi fürs Erste besser abkocht?).
Das Bild stammt aus der Comic-Serie Atomino, die in den Sechzigern und Siebzigern in der DDR-Jugendzeitschrift Frösi erschien. Atomenergie galt da noch als fortschrittliche, saubere Methode der Energieerzeugung und als ein Beispiel dafür, dass die Kräfte der Natur ebenso beherrschbar sind wie die gesellschaftlichen Prozesse. Vorausgesetzt natürlich, die ideologische Fundierung stimmt: Eines der Leitmotive der Serie besteht darin, dass das menschlich gewordene Atom nicht immer so genau weiß, wohin mit seinen Energien, und noch lernen muss, wie es sie am besten zum Wohle der Allgemeinheit einsetzt – zum Beispiel um ausbeuterische Kapitalisten in die Knie zu zwingen.
Die wichtigsten Informationen zur Geschichte von Atomino – außerdem einige Episoden in Gänze oder in Auszügen – gibt es auf dieser interessanten Seite über DDR-Comics, aber es ist durchaus interessant, sich ein bisschen eingehender mit den Hintergründen der Serie zu beschäftigen. Atomino war nämlich keine ostdeutsche Erfindung, sondern ein West-Import – wenn auch einer mit ideologisch einwandfreien Referenzen. Die Serie stammte aus Italien und erschien von 1963 bis 1966 in Il pioniere dell’Unità, der Kinderbeilage der kommunistischen Tageszeitung L’Unità. Diese Beilage entstand wiederum als Fortführung des 1962 eingestellten Magazins Il pioniere, das – ähnlich wie Frösi mit den Thälmannpionieren – mit der Jugendorganisation der italienischen Kommunisten, der API (Associazione Pionieri d’Italia), verbunden war.
Als Atomino seine ersten Auftritte hatte, gab es die API jedoch schon nicht mehr: Der Versuch, eine Art kommunistisches Pfadfindertum zu etablieren und eine nationale Massenorganisation für die Jugend aufzubauen, war nur teilweise gelungen. Zu ihren besten Zeiten hatte die API zwischen 100.000 und 150.000 Mitgliedern; die meisten davon saßen allerdings im Norden Italiens, vor allem in Mailand, Turin und Genua, in der Emilia und der Toskana. Im übrigen Italien tat sie sich dagegen schwer, im Süden konnte sie fast gar nicht Fuß fassen. Anfang der Sechziger beschloss die PCI, die API aufzulösen, zumal die Partei auch langsam auf Distanz zu den osteuropäischen Kommunisten ging und einen reformistischen Kurs einschlug. Ziel war nun nicht mehr, konkurrierende Strukturen zu Staat und Kirche aufbauen, sondern sich aktiv in demokratische Debatten einzumischen und auch eine Regierungsbeteiligung nicht mehr auszuschließen (zu der es dann 1976 auch tatsächlich kam).
Eines der großen innenpolitischen Themen war in diesen Jahren die Schul- und Bildungsreform. Das Thema finden sich auch in den Atomino-Comics wieder: Atomenergie ist schließlich ein Produkt der Wissenschaft, hat also etwas mit Bildung zu tun. Darum muss auch Atomino ab und zu auf die Schule oder zur Universität gehen. Außerdem wird die Leserschaft immer wieder darauf hingewiesen, dass zur echten Bildung auch die Herzensbildung gehört, also sind gutes Benehmen, Höflichkeit und Menschenfreundlichkeit ebenfalls wichtige Eigenschaften für ein junges Mitglied der neuen Gesellschaft. Die ist in ihren Wertvorstellungen und Strukturen so neu nicht: Atominos Zuhause ist eine eher bürgerliche Kleinfamilie, in der es noch das (Stief-)Schwesterchen Smeraldina gibt und den (Stief-)Vater, Professor Zaccaria, seltsamerweise aber keine Mutter. (Die „mütterlichen“ Aufgaben übernimmt, so sie überhaupt eine Rolle spielen, einfach Smeraldina.)
Atominos Schöpfer waren der Zeichner Vinicio Berti und der Texter Massimo Argilli. Beides interessante Persönlichkeiten, auch wenn ihre Biographien eher Fußnoten der italienischen Kultur geblieben sind: Argilli gehörte zu den Redakteuren der Kinderbeilage, schrieb außerdem einige Romane, Jugend- und Kinderbücher und war mit dem Schriftsteller Gianni Rodari befreundet. Der hatte die Pioniere-Redaktion geleitet und selbst einige Kinderbücher verfasst. Ein paar davon fanden auch in Osteuropa zahlreiche Leser, vor allem das Zwiebelchen (Il romanzo di Cipollino), die Geschichte einer Gemüserevolution, die erst vor wenigen Jahren von Katharina Thalbach neu aufgenommen wurde. (In der UdSSR entstanden daraus außerdem ein Zeichentrickfilm und ein Ballett mit Musik von Karen Khatchaturian, dem Neffen des Säbeltanz-Komponisten Aram Khatchaturian.)
Ein Comic-Zeichner war Berti eigentlich nicht: Er arbeitete vor allem als Maler und gehörte einer der zahlreichen Künstlerinitiativen an, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs überall in Italien formierten, nämlich einer florentinischen Gruppe, die sich zunächst Arte d’Oggi (Kunst von heute) nannte und später als Astrattismo classico firmierte, als „klassischer abstrakte Kunst“. Ein etwas irreführender Name: Die Protagonisten der Bewegung malten zwar vorwiegend abstrakt, aber im Manifest der Bewegung ging es vor allem um die konkrete gesellschaftliche Rolle der Kunst, weniger um malerische Überlegungen. Postuliert wurde ein explizit politisches Kunstverständnis, dass sich gegen Kunst als Zerstörung (von Objekten, Formen, Begriffen etc.) wandte und den „aktiven und konstruktiven“ schöpferischen Akt beschwor. Die Bewegung fand allerdings außerhalb von Florenz nur wenig Resonanz. Trotzdem lohnt Bertis abstrakter Expressionismus durchaus ein paar Blicke: Im Internet kann man einige Abbildungen finden.
Argilli und Berti hatten schon zuvor zusammengearbeitet: In den Fünfzigern veröffentlichten sie auf den Seiten des Pioniere die Bildergeschichte Chiodino (deutsch „Nägelchen“). Chiodino, das „Eisenkind“, war gewissermaßen ein Vorläufer von Atomino, nur im Gewand einer älteren Industrie. Und auch seine Abenteuer fanden (zumindest teilweise) den Weg in die Frösi: 1965 und 1966 erschienen dort einige Geschichten unter den Namen Ferri.
Zu Chiodino gibt es übrigens ein interessantes Detail: Die Bildergeschichte kommt ohne Sprechblasen aus, die Texte sind als Kartuschen in die Bilder montiert. Das war angeblich eine Reaktion des Pioniere-Chefredakteurs Rodari auf vehemente Kritik aus dem Zentralkommittee der PCI. Ursprünglich soll die Serie nämlich durchaus als Sprechblasen-Comic konzipiert gewesen sein. Aber während des Entstehungsprozesses erschienen in der Parteizeitung Rinascità Texte von Generalsekretär Palmiro Togliatti und ZK-Mitglied Nilde Jotti, die Comics als dekadenten und wertlosen amerikanischen Import kritisierten. Die Comics traf damit der gleiche argwöhnische Blick, der viele Erzeugnisse westlicher Populärkultur unter den Pauschalverdacht kapitalistischer Propaganda stellte. Die Verwendung von Kartuschen statt von Sprechblasen sollte die Bildgeschichten möglicherweise weniger „amerikanisch“ aussehen lassen. Auch in der DDR gab es derartige Kritik. Das erklärt vielleicht, warum sowohl die Ferri- wie auch die Atomino-Geschichten in diesem Detail umgestaltet wurden und ohne Sprechblasen, sondern mit Bildunterschriften oder ins Bild gesetzten Texten erschienen.
Die Idee zu Atomino hatten sich Berti und Argilli möglicherweise tatsächlich von einem erzkapitalistischen Konkurrenten abgeschaut. In der Disney-Geschichte Topolino e la Dimensione Delta (1959) ließ der Zeichner Romano Scarpa – einer der bedeutenden italienischen Disney-Autoren – zwei Atomunkuli mit ganz ähnlichem Namen auftauchen: Atomino Bip Bip und Atomino Bep Bep. (In der deutschen Übersetzung Micky und die vierte Dimension wurden daraus Atömchen und Betömchen.) Bep Bep, der ungezogenere von beiden, verbündet sich darin mit Kater Karlo und wird zur Strafe schließlich wieder auf atomare Größe geschrumpft. Bip Bip durfte danach noch ein paar Mal in Scarpas Comics auftauchen, verschwand aber ebenfalls bald aus dem Disney-Kosmos. Die Idee, dass es sich bei der atomaren Energie um Kräfte handelt, die sich, je nach dem in welche Hände sie geraten, als Jekyll oder Hyde erweisen können, war in Scarpas Story jedenfalls auch schon vorhanden.
In den Atomino-Comics wird kein Hehl daraus gemacht, dass man die Potenziale von Technik und Wissenschaft nur mit der richtigen Weltanschauung vernünftig einsetzen kann. Immer wieder kommen darum auch politische Themen vor: Unterdrückung, Rassismus, Korruption und organisierte Kriminalität. Vieles davon ist aus einem sehr italienischen Blickwinkel formuliert, was einer der Gründe sein mag, warum nicht alle Originalgeschichten ins Deutsche übersetzt wurden. Außerdem hat man sich sicher auch mit den Episoden schwer getan, in denen die Ordnungskräfte, Polizei und Militär, eher ambivalent dargestellt werden. Dafür gab die Frösi-Redaktion auch eigene Geschichten in Auftrag, die dann teils von Zeichnern aus den eigenen Reihen angefertigt wurden.
Nicht übernommen wurde beispielsweise Atomino contro Brutik, obwohl sie schon vollständig übersetzt vorgelegen haben soll. Hier gibt es in der Tat einige konkrete Verweise auf italienische Verhältnisse, zum Beispiel die klandestine und mafiöse Organisation, für die Atominos Gegenspieler arbeitet. Auch der Name Brutik ist eine Anspielung auf ein typisch italienisches Phänomen: Die Fumetti neri, die „schwarzen Comics“ mit amoralischen (oder wenigstens moralisch ambivalenten) Superhelden. Diese Comics tauchten erstmals Anfang der Sechziger auf, aber sie wurden rasch enorm populär. Die Gewalttätigkeit, Skrupellosigkeit und sexuelle Freizügigkeit der Protagonisten sprach ein sensationslüsternes Publikum an, war aber auch ein Reflex auf die Entwicklung der italienischen Nachkriegspolitik, die es nach dem Krieg rasch wieder in die regionalen und partikularen Egoismen, Klientelwirtschaften und Rivalitäten, von denen die italienische Gesellschaft immer schon geprägt war. Die Fumetti neri machten das faktische Chaos des italienischen Alltags einfach zum Prinzip. (Dass im italienischen Kino bald darauf der Aufstieg der Gialli, des Italo-Westerns und der Splatter-Filme beginnt, die ebenfalls von moralischer Skepsis und Nihilismis geprägt sind, ist sicher kein Zufall, und tatsächlich haben einige prominente Genre-Regisseure, zum Beispiel Mario Bava und Umberto Lenzi, auch Fumetti neri verfilmt.)
Ein kurioses Detail dieser amoralischen Superhelden ist, dass viele ihrer Namen den Buchstaben „k“ enthalten: Diabolik, Kriminal, Satanik … Man könnte eine eigene Dämonologie über die Verwendung dieses unitalienischen, halb teutonischen, halb griechischen Buchstabens in der italienischen Popkultur schreiben. Selbst der italienische Zweig des Disney-Konzerns konnte irgendwann nicht umhin, das Panoptikum der zwielichtigen Helden mit einer eigenen K-Figur zu bereichern, nämlich Donald Ducks Alter ego Paperinik (aus dem in Deutschland Phantomias wurde).
Im angesprochenen Atomino-Comic heißt der Widersacher also Brutik und ist ein tatsächlich ausgesprochen sadistischer Gangster, dessen Folter-Phantasien für die minderjährige Zielgruppe ausgesprochen starker Tobak gewesen sein dürften. (Vielleicht einer der Gründe, warum die Geschichte in der DDR nicht erschien.) Der kleine kommunistische Held darf sich als Personifikation einer moralisch einwandfreien und eindeutig humanen Geisteshaltung bewähren: Die Amoralität des Supergangsters ist dagegen nur ein Exzess des kapitalistischen Systems.
Wenn Atomino und seine Freundin Smeraldina eine Reise unternahmen, dann führte die meist in einen der sozialistischen Bruderstaaten. In der Geschichte Atomino in der Sowjetunion gibt es eine interessante Passage, in der Atomino und Smeraldina einem Raumschiff mit zwei tierischen Kosmonauten begegnen, einem Bär und einem Schmetterling. Beide Tiere beschweren sich bitter darüber, von den Menschen als Versuchstiere mißbraucht zu werden: „Gewisse Experimente sollten die Menschen lieber an sich selbst vornehmen …“ Worauf Atomino und Smeraldino den Tieren die Flucht ermöglichen, dafür aber selbst vom misstrauischen Professoren Popow gefangen genommen und an Untersuchungstische gefesselt werden. Falls da eine dezente Kritik an gewissen Praktiken des großen kommunistischen Bruder intendiert war, wird das aber schon auf den nächsten Seiten wieder gerade gerückt, als Atomino die Physikstudenten der Lomonossow-Universität mit seinen Fähigkeiten und Kenntnissen begeistert: „Schließlich ging es um friedliche Anwendung der Atomenergie …“
Die italienischen Atomino-Comics endeten, wie gesagt, zunächst 1966. Zwei Jahre später brachte der neapolitanische Verlag Morano einige Geschichten als Einzelbände heraus. Morano ist eine interessante und auch heute noch existierende Adresse. Gegründet wurde das Verlagshaus Mitte des 19. Jahrhunderts, und einen Namen hat es sich vorwiegend mit philosophischen, geisteswissenschaftlichen und politischen Texten gemacht, beispielsweise mit Schriften von Luigi Settembrini, Benedetto Croce, Bertrando Spaventa oder Francesco De Sanctis. Ein bunter Comic mit einem ungezogenen Atom scheint in dieses Umfeld nicht wirklich zu passen. Aber auch Morano versuchte ab den Sechzigern, an der Bildungsdiskussion zu partizipieren, und produzierte zahlreiche Schul- und Lehrbücher, und in dieses pädagogische Ambiente passen dann auch wieder die Atomino-Comics.
Von 1969 bis 1974 erschienen dann auch wieder neue Folgen, diesmal in der Zeitschrift Noi Donne („Wir Frauen“). Auch das ein bemerkenswertes Umfeld: Noi Donne ist so etwas wie die italienische Emma, eine der wichtigsten Stimmen der italienischen Frauenbewegung, aber auch ein Magazin mit einer sehr wechselhaften Publikationsgeschichte. Ursprünglich ein Kampfblatt antifaschistischer Aktivistinnen, wurde die Zeitschrift in den Fünfzigern zum offiziellen Sprachrohr der Unione Donne Italiane, die der PCI nahestand, bevor man in den Sechzigern allmählich von der offiziellen Parteilinie (und damit auch dem familienpolitischen Konservatismus einiger PCI-Kader) abzurücken begann und feministischen Debatten breiteren Raum einräumte. Ein ungewöhnliches Umfeld für eine Comic-Serie, die von zwei Männern gemacht wurde, von einem frechen kleinen Jungen handelte, der ohne Mutter aufwächst und in der Frauen selten auftauchten. Noi Donne verstand sich allerdings als eine Mischung aus linker Illustrierter und politischem Magazin, die ein breites Publikum ansprechen sollte. Mit Erfolg: In den Siebzigern liegt die Auflage zeitweise bei 600.000 Exemplaren. Das ließ sich nicht halten: 1990 löst sich die Zeitschrift endgültig von ihrer Bindung an UDI und PCI, aber die Auflage sinkt kontinuierlich. 2000 liegt sie nur noch bei 20.000 Exemplaren und die Printausgabe wird eingestellt. Online macht Noi Donne jedoch weiter, und seit einiger Zeit erscheinen auch wieder gedruckte Ausgaben.
In den Siebzigern wollte Herausgeberin Miriam Mafai – ein prominente Publizistin, die auch die Tageszeitung Repubblica mitgegründet hatte – jedenfalls ausdrücklich auch eine Rubrik für Kinder im Heft haben. Der Inhalt der Geschichten änderte sich etwas: Atominos Schwesterchen Smeraldina, die in den alten Geschichten oft nur als skeptische Mahnerin auftrat, bekam jetzt deutlich mehr Profil, und die Episoden handeln oft von ganz grundlegenden Jungs- und Mädchen-Konflikten und -Rollenverständnissen. Folgerichtig spielen Atominos atomare Kräfte auch nicht mehr eine so herausragende Rolle.
Mitte der Siebziger war dann endgültig Schluss für Atomino: Die Anti-Atombewegung erreichte auch Italien, und da gab es für einen atomaren Helden in einer linken Publikation keinen Platz mehr. Und auch in der DDR verschwand Atomino von der Bildfläche. Mag sein, dass das ebenfalls eine stillschweigende Konzession an die schwindende utopische Kraft der Atomenergie war.
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