Es gibt viele merkwürdige Straßennamen, aber dieser hier ist sicher besonders seltsam: Deutsches Reich. Die Straße mit dem großspurigen Namen liegt im Bochumer Stadtteil Werne. Viel her macht sie nicht: Es ist eine unscheinbare Wohnstraße, deren Beschaulichkeit allerdings durch das Rauschen des nahen Ruhrschnellwegs arg gestört wird.
Genau genommen handelt es sich weniger um einen Straßen- als um einen Siedlungsnamen. Die „Kolonie Deutsches Reich“ entstand um 1871/72 als Wohnsiedlung für Bergarbeiter und Angestellte der Harpener Bergbau AG, einer der maßgeblichen Bergbaugesellschaften des Ruhrgebiets. Warum man der beschaulichen Siedlung ausgerechnet so einen hochtrabenden Namen gab, ist nicht überliefert, aber die Reichsgründung lag bei Baubeginn noch nicht lange zurück, nationale Namensgebungen waren mithin en vogue, auch wenn man in den meisten Fällen eher auf einzelne Regionen, historische Ereignisse oder auf prominente Gestalten zurückgriff als auf das Reich insgesamt. Möglicherweise war der Name auch als patriotischer Fingerzeig für die hier angesiedelten Arbeiter gedacht, von denen sicher einige aus den Ostgebieten des Reichs stammten und eher polnisch als deutsch sprachen.
Einige ältere Häuser stehen noch, mal mehr, mal weniger saniert, ansonsten wird auch viel neu gebaut in und um’s Deutsche Reich, wobei das meiste allerdings eher nach Wohnungsbauarchitektur von der Stange aussieht.
Bemerkenswert ist natürlich, dass sich der Name bis heute gehalten hat. Die Ruhrbarone haben vor einiger Zeit mal nachgeforscht und festgestellt, dass es durchaus Initiativen gab, die auf eine Umbenennung hinwirken wollten, aber die Stadt Bochum hat offenbar kein wirkliches Interesse an einer Namensänderung, auch wenn die Adressangabe einigen Anrainern mehr als lästig ist. Offiziell wird darauf hingewiesen, dass der Begriff „Deutsches Reich“ weit mehr bezeichnet als nur die Zeit des Nationalsozialismus, was zwar im Prinzip richtig ist (zumal die Nazis ab 1938 eher die Bezeichnungen „Großdeutsches Reich“ und „Großdeutschland“ benutzten), aber doch sehr nonchalant mit der Tatsache umgeht, dass diesem Namen im Verlauf der deutschen Geschichte einiger Ballast angehängt wurde, über den man nicht so einfach hinwegsehen kann. Es gab ja nicht ohne Grund in den Beratungen, die der Verabschiedung des Grundgesetzes voraus gingen, auch heftige Diskussionen über den Namen, den das neue Staatsgebilde tragen sollte. Juristisch gesehen ist das Deutsche Reich – zumindest nach bundesrepublikanischer Rechtsauffassung – zwar nie untergegangen, aber der alte Name sollte 1948 mit der Bezeichnung „Bundesrepublik Deutschland“ bewusst durch eine möglichst sachliche Benennung ersetzt werden, denn der Begriff „Reich“ sei „von der Geschichte konsumiert“ worden, wie Theodor Heuss damals formulierte.
Offiziell ist das „Deutsche Reich“ also auf den Status eines politischen Zombies reduziert worden, der nur noch als Wiedergänger eines desavouierten Staatsverständnisses funktioniert. Es gäbe mithin gute Gründe für eine offizielle Neubenennung des Deutschen Reichs von Bochum. Und falls man sich auf den Standpunkt stellen wollte, es handele sich um eine historisch zu verstehende Namensgebung, dann könnte man doch wenigstens – und sei’s nur durch ein Hinweis- oder Zusatzschild – auf den Kontext der Straßenbenennung hinweisen, aber das will die Stadt Bochum scheinbar auch nicht. Und so besteht das Deutsche Reich tatsächlich noch weiter. Wenn auch glüclicherweise nur in den Grenzen von Bochum-Werne.
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