Second Cities


Neu-Otzenrath/Spenrath

Alexander Trevi, Autor des Landschaftsarchitektur-Blogs Pruned, hat einen interessanten älteren Artikel wiedergepostet: Vor einigen Jahren haben Bauingenieure der Purdue University einen interessanten Vorschlag gemacht, wie Istanbul die Risiken eines katastrophen Erdbebens vermindern könnte. Nämlich einfach durch den Bau einer neuen Stadt. Eine „zweite Satellitenstadt wüärde den Einwohnern der alten Stadt sofort Unterkunft bieten können“ und „damit die Auswirkungen eines solchen Ereignisses auf die nationale Wirtschaft dämpfen“, schreiben die Ingenieure.

Mit welcher Ernsthaftigkeit die Idee vorgestellt wurde, lässt sich aus der Pressemitteilung nicht erschliessen. Möglicherweise ging es nur darum, die selbstentwickelte Applikation zu präsentieren, mit der eine 3D-Simulation des neuen Istanbul erstellt wurde – seither haben jedenfalls weder die Universität noch türkische Stellen weiteres über das Konzept verlauten lassen. Dafür hat vor kurzem die japanische Regierung Ãœberlegungen zu einer Backup-Version von Tokio vorgestellt. Der Gedanke, dass der Bau einer neuen Stadt weniger aufwändig sein könnte als die Modifikation einer bestehenden, ist freilich auch nicht neu: Man denke nur an Le Corbusiers unsentimentalen Vorschlag eines Totalabrisses und Komplettneubaus von Paris.

Neu-Otzenrath/Spenrath

Kurioserweise gibt es im Strange Maps-Blog aktuell auch einen Artikel über eine Standby-Version von Paris. Die Pläne stammen aus den Jahren des Ersten Weltkriegs, und in diesem Fall ging es auch nicht um den Aufbau einer Ausweichmetropole für den Notfall, sondern um ein „Stunt-Double“, wenn man so will: Ein Attrappen-Paris, das deutsche Bomberpiloten irritieren und die Bombardierung der echten Metropole verhindern sollte.

Mindestens ebenso interessant wie diese ehrgeizigen Pläne ist die Vorstellung, wie eine Umsetzung tatsächlich aussehen und wie sich eine solche neue Stadt mit Leben füllen könnte. In den Planungen von Tokio und Istanbul geht es hauptsächlich um die Kontinuität administrativer und ökonomischer Funktionen, aber wäre ist es mit der sozialen und emotionalen Kontinuität? Lässt sich ein Ort tatsächlich so einfach von einer Stelle zu einer anderen verlegen? Wie würde sich das Verhältnis des Originals und seiner Bewohner zur Kopie entwickeln, vor allem wenn eine solche Kopie entsteht, während das Original noch existiert?

Neu-Otzenrath/Spenrath

In einem kleinen Maßstab kann man solche Prozesse hier in der Gegend durchaus ab und zu mal beobachten. Der Braunkohle-Tagebaue zwischen Köln und Aachen lassen auch heute noch immer wieder Dörfer verschwinden, die einige Kilometer entfernt wieder auferstehen. Natürlich nicht als identische Kopie, sondern als eine Art bereinigter Remix: Verschwunden ist die Patina des alten Dorfs, die über Jahrhunderte und Jahrzehnte angehäufte Schrabbeligkeit und Beliebigkeit, stattdessen steht für die Umsiedler eine cleane, aus dem Fertigbauprospekt gepellte Welt bereit, hier und da dekoriert mit einigen Elementen, die man vor dem Untergang retten konnte. Vorwiegend übrigens religiöse Elemente, als hätten nur sie die nötige Gravitas, um auch im neuen Umfeld Kontinuität zu symbolisieren: Wegkreuze, Heiligenfirguren, Kirchenschmuck, auch die Toten ziehen immer mit um und sind meist sogar unter den ersten.

Die Siedlungen, um die es hier geht, sind naütrlich wesentlich kleiner als die oben erwähnten Mega-Projekte, sie haben keine klangvollen Namen und sind nicht gerade Knotenpunkt von administrativen, politischen, logistischen oder kulturellen Funktionen. Aber es gibt doch eine interessante Gemeinsamkeit. Die alten und neuen Orte führen stets über einige Jahre eine Parallelexistenz: Das neue Dorf entsteht, während das alte noch existiert. Von den Betroffenen wird dieser Prozess meist als Gewaltakt empfunden: Die Entscheidung zur Verlegung eines Ortes wird anderswo getroffen und von Notwendigkeiten bestimmt, die nicht aus dem Dorfleben selbst hervorgegangen sind. Viel Mitsprachemöglichkeiten gibt es nicht, und Versuche, den Prozess aufzuhalten oder zu verschleppen, führen zu einem zähen (und in der Regel erfolglosen) Kampf gegen bürokratische und juristische Windmühlenflügel. Und die Vernichtung des alten Umfelds ist eine absolute: Der alte Ort wird nicht nur buchstäblich dem Erdboben gleichgemacht, er verschwindet komplett mitsamt der Erdoberfläche, die ihn umgeben hat: Keine Ruinen, keine Landschaft bleiben als sichtbare Erinnerung übrig. Paradoxerweise ist in vielen Ortschaften die Ankündigung der dörflichen Apokalypse der wichtigste Grund, sich überhaupt wieder als Gemeinschaft zu finden – und entsprechend fragil scheint diese Gemeinschaft dann auch zu sein, wenn der negative Anlass seine Wucht eingebüsst hat.

Immerath (neu)

Denn die meisten dieser neuangelegten Dörfer entstehen in unmittelbarer Nachbarschaft (und als Teil) von anderen Gemeinden; auf den ersten Blick sehen sie darum aus wie andere Neubaugebiete auch, und man muss oft genau hinsehen, um Merkmale von Eigenständigkeit auszumachen. In vielen Fällen scheinen sie in den folgenden Jahren und Jahrzehnten reibungslos in die aufnehmenden Siedlungen aufzugehen. Obwohl sich die Planer meist einige Mühe geben, den neuen Siedlungen eigenen Charakter zu geben, etwa durch ein eigenes Zentrum mit einem Dorfplatz, um den sich Geschäfte, Kirche und kommunale Einrichtungen gruppieren, oder indem Hügel, Bächer oder Wälder als natürliche Grenzmarkierungen einbezogen werden. Die neuen Siedlungen sollen möglichst auch nicht zu reißbretthaft aussehen: Straßen und Wege dürfen auch krumm verlaufen Dass die neuentstandenen Dörfer trotzdem oft austauschbar und blutleer wirken, liegt natürlich nicht nur daran, dass sie neu sind und noch keine jahrhundertealte Patina vorweisen können, sondern dass mit dem, was so an Entschädigungs- und Fördergeldern fließt, nicht unbedingt viel herzumachen ist und dass man den Häusern ansieht, dass sie – anders als in einem über Jahrhunderte gewachsenen Dorf – alle im selben Zeitgeschmack entstanden sind.

Neu-Lich-Steinstraß

Eine interessante Nuance hat sich zuletzt bei den Namensgebungen verändert: Früher trugen die neuen Siedlungen stets den Namen der alten mit dem Zusatz „Neu-“ davor: Neu-Bottenbroich, Neu-Mödrath. Heute wird das „neu“ nur noch verschämt in Parenthesen versteckt und soll vermutlich, sobald die Erinnerung an die ursprünglichen Ortschaften auch in den Datenbanken von Post und Behörden verblasst ist, ganz verschwinden. Die neuen Siedlungen sollen also nicht mehr nur eine Neuausgabe eines verschwundenen Ortes sein, sondern dieser Ort selbst, seine an einen anderen Platz hinüber gerettete Essenz.

Aber natürlich haben Orte keine Essenz, die sich so einfach herausdestillieren und anderswohin transportieren ließe. Was man retten kann, sind allenfalls ein paar Spuren, die um so deutlicher auf Diskontinuität hinweisen, wie die Kreuze untergegangener Gräber an einer nagelneuen Kirchhofsmauer.

Neu-Bottenbroich

Bilder aus Otzenrath/Spenrath (neu), Immenrath (neu), Neu-Lich-Steinstraß und Neu-Bottenbroich

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