In der aktuellen Ausgabe der Kundenzeitschrift der Deutschen Bahn gibt es einen Artikel über Radwege auf stillgelegten Bahntrassen. Dass ausgerechnet die Bahn solche Wege als touristisches Highlight abfeiert, ist nicht ohne Ironie. Wenn man heutzutage auf ehemaligen Bahnstrecken ein bisschen Rad fahren kann, dann ist das auch eine Spätfolge der Streckenstillegungen in den Achtzigern und Neunzigern: Damals strich die Bahn das Nahverkehrsangebot im ländlichen Raum radikal zusammen, um sich für den geplanten Börsengang hübsch zu machen. Der Gang an die Börse wurde abgeblasen, die stillgelegten Strecken blieben jedoch zumeist still. Die Idee, diese vergessene Infrastruktur wenigstens für Radfahrer und Fussgänger wieder zugänglich zu machen, ist erst in den vergangenen Jahren in Mode gekommen, aber die Initiative dazu kommt meist nicht von der Bahn, sondern von lokalen Bürgerinitiativen oder Fremdenverkehrsämtern.
Davon liest man im Artikel natürlich nichts (und auch nicht davon, dass manche Bahnradwege mit öffentlichen Verkehrsmitteln gar nicht so einfach zu erreichen sind, weil, nun ja, eben kein Bahnanschluss mehr besteht). Immerhin wird darin aber die verdienstvolle Website von Achim Bartoschek erwähnt, eine beachtliche Internet-Fleißarbeit, die vermutlich die umfangreichste Ressource zu Radwegen auf alten Bahntrassen darstellt, mit Karten, Geodaten, Fotos, was man eben so braucht.
Es ist natürlich besonders angemessen, einen solchen Artikel zu lesen, wenn man selbst auf der Fahrt zu einem Bahntrassenradweg ist. Wir hatten uns auf den Weg gemacht, um eine stillgelegte Strecke zu inspizieren, die nicht nur aus eisenbahnhistorischen Gründen interessant ist, sondern vor allem ein grenzpolitisches Kuriosum darstellt: Die Vennbahn, die von Aachen südwärts zum Hohen Venn bis nach Luxemburg fuhr. Die Strecke verläuft teils durch deutsches, teils durch belgisches Gebiet, teils genau an der Grenze entlang. Das Kuriose: Ein großer Teil der Vennbahntrasse ist auch da, wo er sich durch deutsches Gelände schlängelt, belgisches Hoheitsgebiet. Anders gesagt: Belgien ist zwischen Raeren und Kalterherberg an einigen Stellen nur wenige Meter breit, ein dünner, dafür kilometerlanger Schlauch, der sich durch die Landschaft schiebt, außerdem ein paar Fleckchen Deutschland abschneidet und zu Exklaven macht.
Der bemerkenswerte Grenz- und Streckenverlauf ist eine Folge des Ersten Weltkriegs. Als die Vennbahn Ende des 19. Jahrhunderts von den preußischen Staatsbahnen angelegt wurde, gehörten die Gebiete um Eupen und Malmedy noch zu Preußen beziehungsweise zum Deutschen Reich. Mit dem Ende des Kriegs verschob sich die Grenze nach Osten, und die Bahn mäanderte nun gleichsam zwischen den Ländern hin und her. Die belgische Regierung sah in der Strecke eine wichtige Verkehrsader für die Städte in den neuerworbenen Ostkantonen, und natürlich hatte man wohl auch nicht vergessen, dass die Vennbahn im Ersten Weltkrieg auch zu militärischen Zwecken eingesetzt wurde und Teil des strategischen Bahnnetzes war. Belgien verlangte und bekam schließlich die Oberhoheit über die gesamte Bahnstrecke zwischen Raeren und Kalterherberg, einschließlich aller zur Bewirtschaftung notwendiger Gebäude und Installationen. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Auch nach der Stillegung der Strecke und dem Abbau der Gleise ist die Trasse noch immer belgisches Hoheitsgebiet, ebenso das, was von Bahnhofsgebäuden, Wartehäuschen und ähnlichem noch übrig geblieben ist (weswegen der Grenzverlauf, wenn man ihn auf der Landkarte betrachtet, an einigen Stellen ein paar Beulen aufweist).
Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Vennbahn zunehmend an Bedeutung: Von den Sechzigern an wurden mehr und mehr Abschnitte aufgegeben, 1989 kam die endgültige Stillegung der Bahn. Ein paar Jahre lang fuhr gelegentlich noch eine Museumsbahn über die Trasse, aber auch dieser Betrieb wurde Anfang des Jahrtausends wegen Unrentabilität aufgegeben, schließlich die Gleise abgebaut. Vor einigen Jahren gab es mal einen kleinen Sturm im Wasserglas, als ein belgischer Lokalpolitiker behauptete, Belgien könnte sich bereit erklären, das Bahngelände an Deutschland abzutreten, was aber von den zuständigen belgischen und deutschen Ministerien rasch dementiert wurde, bevor die Aufregung über den Gebietsverlust allzu große Kreise in der belgischen Öffentlichkeit ziehen konnte.
Die Bemerkungen des Lokalpolitikers brachten der Vennbahn immerhin wieder ein bisschen öffentliche Aufmerksamkeit. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde wohl auch beschlossen, die Trasse der Vennbahn zum Radweg umzugestalten und ins sogenannte RAVeL-Netz einzugliedern. Die Abkürzung steht für Réseau Autonome de Voies Lentes, ein Netzwerk von Wegen für langsame Fortbewegungsarten, das im wallonischen Teil Belgiens seit einigen Jahren aus alten Eisenbahnstrecken, aber auch Treidelpfaden und ehemaligen Markt- und Kirchwegen aufgebaut wird. (Eine offizielle Dokumentation dieses Netzwerks findet sich hier.)
In die Sache ist nun tatsächlich Bewegung gekommen. Es wird gebaut auf der Vennbahnstrecke und bis 2013 soll hier ein Radweg entstehen, der von Aachen bis ins luxemburgische Troisvierges führt – 130 km lang, wenig markante Steigungen und meist abseits von stark befahrenen Straßen. Und das auf einer ausgesprochen reizvollen Strecke: Es gibt viele aussichtsreiche Abschnitte (im Unterschied zu anderen Bahnstrecken wurde die Vennbahntrasse nur an wenigen stellen durch enge Tröge geführt), ausgedehnte Waldgebiete, sumpfige Vennlandschaften, schroffe Felsen und bemerkenswerte Infrastruktur wie zum Beispiel das spektakuläre Viadukt, das beim Kloster Reichenstein überquert wird. Abgesehen davon ist die Strecke auch einfach ein guter Verbindungsweg zu anderen Zielen, wie dem Hohen Venn, Monschau, oder Richtung Eupen und Malmedy.
Ein besonderer Reiz dieser Strecke liegt natürlich darin, dass man über einen langen Abschnitt quasi auf der Grenze entlang fährt. Als Kind habe ich oft stundenlang die Grenzverläufe auf Landkarten studiert, je bizarrer und mäandernder, um so interessanter, und ich habe mir dann oft ausgemalt, an diesen Grenzlinien entlang zu marschieren und ihre Spuren in der Landschaft zu suchen. Die Vennbahn ist nicht nur ein perfektes Terrain für Eisenbahn-Nostalgiker, sondern auch für kartographische Nerds, die sich für Ex- und Enklaven und ähnliche territoriale Koketterien begeistern können. Hier fährt man kilometerlange durch einen Teil Belgiens, dessen Breite von zwei erwachsenen Menschen mit ausgestreckten Armen ausgemessen kann und mit ein paar Schritten überwunden werden kann. Dass man sich in Belgien befindet, merkt man freilich kaum: Außer ein paar verbliebenen Kilometersteinen und den typischen viereckigen belgischen Hinweisschildern für Rad- und Fußwege gibt es so gut wie keine Indizien.
Rastplätze und Einkehrmöglichkeiten sind unmittelbar an der Strecke verständlicherweise noch kaum vorhanden, aber finden sich oft genug in der Nähe. In Roetgen wurde am ehemaligen Bahnhof ein kleiner Park angelegt. Daneben steht eine ambitioniert gestaltete Rasthütte, in der sich kurioserweise auch ein Reisebüro befindet, das die Touristen auf dem Vennbahn-Radweg mit Urlaubsangeboten aus der Türkei und Griechenland bewirbt. Auf der anderen Seite der Gleise gibt es schon eine obligatorische und sehr rustikale belgische Friterie.
Das ist im Moment (Ende April) der Status quo auf der Strecke zwischen Aachen und Kalterherberg:
– Auf Aachener Stadtgebiet wird die Strecke (die hier nicht belgisches Hoheitsgebiet war) schon seit längerem als Radweg genutzt: Er beginnt in der Nähe des Bahnhofs Rothe Erde und führt in großzügigen Schwüngen über die Ortsteile Brand und Kornelimünster bis nach Walheim.
– Von Walheim bis zur belgischen Grenze haben die Bauarbeiten zwar bereits begonnen, aber sie sind, bis auf kleinere Abschnitte, noch nicht weit gediehen. Bis Raeren muss man derzeit noch über Nebenstrecken ausweichen.
– Von der Grenze ab ist die Strecke dann durchgehend geteert bis nach Lammersdorf. Teilweise stehen zwar noch Absperrungen, aber Spaziergänger und Radfahrer sind bereits in großer Zahl auf der Trasse unterwegs. Ein problematischer Abschnitt befindet sich vor Roetgen, kurz nachdem die Strecke sozusagen erstmals das belgische Kernland verlässt und als dünner Schlauch durch deutsches Gelände führt: Hier muß die B258, die sogenannte „Himmelsleiter“, gequert werden, und zwar ausgerechnet an einer ausgesprochen schlecht einzusehenden und durchaus gefährlichen Stelle: Autos fahren hier oft mit großer Geschwindigkeit, sind aber, wenn sie von der Talseite kommen, erst im letzten Moment zu sehen. Irgendwann soll mal eine Unterführung gebaut werden, aber vorerst hat man von offizieller Seite die Überquerung einfach verboten und mit Bauzäunen erschwert. Eine Alternative ist blöderweise nicht ausgeschildert. Am besten folgt man dem Radweg, der die B258 begleitet, bergauf, um dann entweder an einer etwas übersichtlicheren Stelle die Straße zu queren oder bis nach Roetgen zu fahren, wo die Bundesstraße die alte Bahnlinie erneut kreuzt.
– In der Ortsmitte von Lammerdorf endet die Teerstrecke. Es folgt ein kurzes Stück, auf dem noch der grobe Schotter des Gleisbetts liegt, aber hinter der Ortschaft ist der Weg bereits so weit bearbeitet, dass die Teerdecke wohl irgendwann in den nächsten Wochen aufgebracht werden kann. Auch hier sind trotz Absperrungen schon einige Spaziergänger und -radler unterwegs.
– Nördlich vom Monschauer Stadtteil Konzen kreuzt die Bahnstrecke erneut die B258 (die hier übrigens selbst eine Art Grenz-Kuriosum bildet, weil sie für ein kurzes Stück über belgisches Territorium führt, ohne Anschluss ans belgische Straßennetz zu haben). Von hier ab bis Kalterherberg ist die Strecke in unterschiedlichem Zustand, einige Abschnitte sind schon grob eingeschottert, anderswo sind zumindest die Spuren von Baufahrzeugen zu erkennen. Mountainbiker und Jogger sind schon unterwegs, aber das meiste ist offiziell noch nicht freigegeben und teilweise abgesperrt.
Unterhalb von Kalterherberg ist derzeit vorerst Schluß, und das Teilstück bis Sourbrodt wird vermutlich noch eine Weile unterbrochen bleiben: Naturschützer haben gegen den Bau des Radweges protestiert, weil er hier durch ein Brutgebiet seltener Vogelarten führen würde. Ab Sourbrodt soll die Strecke aber definitiv fortgeführt werden und würde dann westlich von Bütgenbach auf eine weitere, bereits voll ausgebaute RAVeL-Strecke treffen, die nach Malmedy, Stavelot und Trois-Ponts führt. Die weiter südlichen Abschnitte der Vennbahn kenne ich nur zum Teil, aber mit dem Rad sind sie schon in der Gegend um Sankt Vith befahrbar, außerdem entlang der deutsch-belgischen Grenze bei Burg-Reuland und bis zur luxemburgischen Grenze (da wurde allerdings im vergangenen Jahr noch gebaut).
Und hier eine mögliche Route (mit abschließendem Schlenker an der Olef-Talsperre vorbei und zum Bahnhof in Kall).
Schreiben Sie einen Kommentar