Corviale


Corviale

Es ist nicht so einfach, den Corviale zu finden. Vom Bahnhof in Magliana hat man ein gutes Stück Fußweg vor sich, und in diesem Teil Roms sind sich GPS und Stadtplan gelegentlich uneins über die Existenz und den Verlauf von Straßen. Nach einem falschen Linksabzweig stehen wir prompt in einer Sackgasse, mitten in einer riesigen ungemähten Wiese, die nach wilden Kräutern duftet, aber von Bauzäunen umringt und auf Verbotsschildern als Privatgelände ausgewiesen wird. Immerhin: Über die Blumen und Gräser hinweg sehen wir immerhin zum ersten Mal an diesem Tag auf einem gegenüberliegenden Hügel den Corviale: Jenen 1 km langen und elf Stockwerke hohen Behemoth aus Beton, der manchen als Inbegriff aller Verfehlungen moderner Architektur gilt, anderen als zwar gescheitertes, aber doch studierenswertes Experiment utopischer Stadtplanung.

Von unserem Aussichtspunkt aus wirkt er weit weniger einschüchternd als gedacht, aber die gesamte Ausdehnung des Komplexes bekommt man auch nicht sofort in den Blick, weil sich immer etwas dazwischen schiebt: andere Gebäude, Hügelkuppen, Werbeplakate. Es dauert eine Weile, bis wir einen Punkt finden, von dem man den gesamten Corviale überschauen kann. Und auch dann noch sehen wir zunächst nicht mehr als einen großen Wohnblock, der zwar außerordentlich lang gestreckt ist, aber sich sonst noch nicht wesentlich zu unterscheiden scheint von vielen ähnlichen Blocks, die man in anderen Neubaugebieten der Welt finden kann.

Corviale

Erst als wir, nach der Überquerung von ein, zwei weiteren Hügelkuppen, direkt zu Füßen des Corviale stehen, wächst er ins Überdimensionale. Dann sehen wir auch, dass es sich bei diesem Komplex um mehr handelt als nur ein großes Hochhaus, sondern dass wir es hier tatsächlich mit einem ganzen Stadtviertel zu tun haben: Ein komplexes System, zu dem auch einige benachbarte Gebäude gehören, in denen weitere Appartements, Verwaltung, Polizei und Sportanlagen untergebracht sind, eine Kirche und eine recht weitläufige, etwas heruntergekommene Grünanlage, alles miteinander durch Straßen, Brücken, Treppen und Tunnels verbunden.

Über allem thront freilich der Beton-Monolith des Hauptkomplexes, der sich wie eine riesige Mauer über den Kamm eines Hügels zieht. Zwischen 8.000 und 9.000 Menschen sollen hier wohnen, vielleicht sogar 10.000, da gibt es unterschiedliche Angaben. Laut einem unserer Reiseführer ist der Corviale das längste Gebäude Europas, auch die deutsche Wikipedia behauptet das. Was nicht ganz richtig ist, aber auch nicht ganz falsch: Es gibt (wie man in dieser Liste sehen kann) sogar fünf Wohngebäude mit längerer Fassade, darunter den Marxhof in Wien und den Langen Jammer in Berlin, aber keiner dieser Bauten hat eine so schnurgerade verlaufende Front wie der Corviale. (Ganz gerade ist die Front allerdings auch beim Corviale nicht: Es gibt etwa in der Mitte eine kleine Lücke, und die nördliche Hälfte des Komplexes ist leicht versetzt.)

Corviale

Eine voll funktionstüchtige, vertikale Stadt in einem Gebäude unterzubringen (oder zumindest in einem zusammenhängenden Gebäudekomplex): Das war die Vision der Stadtplaner und Architekten, die für den Corviale verantwortlich zeichneten. Raus aus dem Chaos der veralteten und viel zu engen Innenstädte, in die Außenbezirke, wo man das Gesicht der modernen Metropole völlig neu und nach funktionalen Kriterien am Reißbrett durchgestalten konnte. Als 1972 die Planungen am Corviale begannen, war diese Vision freilich kein besonders neues Phänomen mehr, im Gegenteil: Der Backlash war bereits in vollem Gange. Im gleichen Jahr wurde in Saint Louis der Pruitt-Igoe-Komplex demoliert, ein Ereignis, das gerne als Ende der Nachkriegs-Moderne ausgegeben wird. Die Zeit schien vorbei für spektakuläre städtebauliche Utopien. Und so wirkt der Corviale heute von außen nicht weniger antiquiert als manches mittelalterliche Städtchen Italiens, das sich von außen ähnlich einschüchternd und abweisend gibt und den Fremden mit seinen Türmen und Mauern erst einmal Respekt abnötigen will, bevor es sie einlässt.

Auf YouTube gibt es zwei interessante Ausschnitte aus einem Vortrag des Architekten Mario Fiorentino, dem Hauptverantwortlichen für Konzept und Planung des Corviale. Fiorentino war ein Mann mit großer Erfahrung und hatte bereits einige ambitionierte Wohnungsbauprojekte betreut, nicht nur in Rom, sondern auch in anderen italienischen Städten. Der Vortrag stammt wohl aus dem Jahr 1981, und man merkt Fiorentino an, dass der Corviale damals schon massiv in der Kritik gestanden haben muss. Jedenfalls ist er sehr bemüht, den Vorwurf, es handele sich bei dem Komplex nur um eine austauschbare und seelenlose Wohnmaschine, ohne Bezug zum Umfeld, zur Stadt und zur Landschaft, aus der Welt zu räumen: „Der Corviale ist genau das Gegenteil einer Wohnmaschine, sofern sie als wiederholbares Element gedacht ist, als ein Element, das in seiner Komplexität und Funktionalität studiert wird und wiederholt werden kann. Der Corviale ist vielmehr als ein Unikum für genau diesen Platz und diese Stadt Rom entstanden“, betont er. Das könne man beispielsweise „am Verhältnis zwischen modularen, repetitiven, monotonen Teilaspekten mit großen Elementen der Architektur, wie den großen Eingangsportalen“ erkennen, oder an der Art und Weise, wie die typische Landschaft im Westen von Rom – „ein System von Hügeln, die parallell zum Verlauf der Küste liegen“, mit einer Vegetation aus „Eukalyptus oder Pinien“ – vom Corviale zitiert wird: „Es ist kein Zufall, dass der Corviale auf dem Kamm eines dieser Hügel steht und etwas von der Spannung der umliegenden Landschaft aufnimmt.“ Aber es scheint eher so, als habe man ihn wie einen Damm auf den Hügel gesetzt, sei es, um das Zurückdrängen der Natur in die Stadt zu verhindern, sei es, um das weitere Ausufern der Vorstädte in die Landschaft einzudämmen.

Corviale

Ein Problem des Corviale ist seine isolierte Lage weit vor den Toren Roms. Was den Stadtplanern als optimale Voraussetzung erschien, nämlich quasi auf der grünen Wiese zu bauen, also auf einem historisch oder städtisch unvorbelasteten Gelände, erwies sich für die Bewohner eher als Nachteil: Wer hier wohnt, lebt in der Peripherie, am Rande des Geschehens, und die vorhandene Infrastruktur bietet wenig Verbindungen ins Zentrum. Aber nicht nur die ferne Metropole ist ein Problem, es erscheint auch fast unmöglich, den Corviale auf eine sinnvolle Weise in das unmittelbare Umfeld zu integrieren. Einsam überragt er die Landschaft, fast ohne Bindung und Bezug zur Umgebung. Auf der einen Seite des Corviale erstreckt sich ein unübersehbares Meer schnell hochgezogener Durchschnittsbauten, meist wesentlich kleiner dimensioniert, aber ohne klar erkennbare städtische Struktur und wesentlich chaotischer als es die verpönten Altstädte jemals waren. Auf der anderen Seite gibt es brachliegende Wiesen und improvisierte Gärten, in denen Hühner, Ziegen und Pferde grasen. Die Falowiec-Bauten in Danzig, die wir vor einigen Jahren gesehen haben, waren wenigstens Teil einer größeren Trabantenstadt, die zwar auch nicht wirklich schön aussieht, aber immerhin so etwas wie urbane Kohärenz vermittelt.

Corviale

Dass der Corviale früh als gescheitertes Experiment galt, dazu haben aber auch Missmanagement und bürokratischer Schlendrian beigetragen. Schon die Fertigstellung zog sich in die Länge wie der Bau selbst, erst 1982 wurde der Corviale offiziell eröffnet. Da wohnten aber längst schon Menschen dort, denn der akute Wohnungsmangel in Rom hatte einen lebendigen Schwarzmarkt ermöglicht. Wohnungssuchende besetzten auch die Areale, die eigentlich nicht als Wohnraum vorgesehen, und die komplexe urbane Mechanik aus Wohn-, Gewerbe- und Freizeitarealen, die sich die Planer ausgedacht hatten, kam nie wirklich in Gang.

Ganz fertiggestellt war der Corviale auch zum Zeitpunkt der offiziellen Eröffnung nicht, und bis heute finden sich hier und da noch vorläufige und improvisierte Lösungen, während an anderen Stellen schon der Zahn der Zeit nagt. Der Komplex blieb in den folgenden Jahren weitgehend sich selbst überlassen, mit der fast zwangsläufigen Konsequenz, dass sich eine Grauzone aus Schattenökonomien, Illegalität und Rechtlosigkeit entwickelte. In den italienischen Medien tauchte der Corviale fast nur noch im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution auf, und es gehört zum Standardrepertoire populistischer Kommunalpolitiker, die Umsiedlung der Bewohner und die Sprengung des gesamten Komplexes zu fordern.

In den vergangenen Jahren hat sich das Klima etwas entspannt, auch aufgrund zahlreicher Initiativen, die eine Neubewertung des Komplexes versuchen. Vieles davon kommt von Bewohnern selbst, erzählt man uns: Ein Passant, mit dem wir ins Gespräch kommen, erzählt von Sport-, Freizeit- und Kulturveranstaltungen, die in Eigeninitiative organisiert werden, und von Führungen, die für interessierte Touristen angeboten werden. Längst wird der Corviale nämlich auch in Reise- und Architekturführern erwähnt, und es gibt viele, die wie wir einen neugierigen Blick werfen wollen auf dieses Monument, das für eine Hybris von ähnlichen Ausmaßen zu stehen scheint wie die Kolosseen und Kirchen, die man sonst in Rom zu betrachten pflegt.

Corviale

Für uns reicht die Zeit nur für einen kurzen Spaziergang entlang des Hauptgebäudes. Und von außen ist der Corviale wirklich kein einladendes Gebäude. Die Fassade wird von fünf Eingangsportalen gegliedert, deren turmartiger Charakter etwas Bedrohliches und Abweisendes hat. Man könnte sie auch für startbereite Raketen halten, und unweigerlich betritt man sie etwas zaghaft, als müsste man befürchten, von plötzlich angeworfenen Triebwerken zermahlen oder aufgesaugt zu werden. Das Gefühl der Beklemmung weicht auch im Inneren nicht. Der Corviale besteht nicht aus einem, sondern aus zwei parallel laufenden Blöcken, die wie Wachtposten Rücken an Rücken stehen, allerdings durch eine schmale Schlucht getrennt sind. Er wirkt eher wie eine Festung oder wie ein gestrandetes Schlachtschiff, ein Ort, von dem aus etwas verteidigt werden soll, ohne dass Außenstehende erkennen können, was im Inneren vor sich geht.

Es ist Mittagszeit, und daher nicht allzu viel los, als wir über das Areal spazieren. Der Corviale ist nicht ganz ausgestorben, aber von den Tausenden Menschen, die hier leben sollen, sieht man kaum etwas. Ein paar Frauen schleppen Einkäufe nach Hause, zwei, drei Männer sitzen auf Bänken und Stühlen herum, einige Schüler und Schülerinnen tratschen auf dem Heimweg mit ihren Handys, ein paar Hunde haben sich von ihren Besitzern selbständig gemacht und durchschnuppern die Grünanlagen. Durch den Canyon zwischen den Häuserblocks hallt schwache Radiomusik, ab und zu hört man das Echo von Stimmen oder von Schritten. Der Komplex ist alles andere als labyrinthisch, und trotzdem fühlen wir uns etwas verloren, weil man auch nicht wirklich einen Einstiegspunkt findet, von dem aus man das ganze Areal für sich erschließen könnte.

Und dann machen wir uns wieder auf den Rückweg durch die römischen Vororte und ihr seltsames Nebeneinander aus wahllos verstreuten und meist eintönigen Mehrfamilienhäusern, zwischen die noch ein paar übrig gebliebene Brachwiesen gestreut sind. Der Corviale verschwindet schnell aus dem Blickfeld: Nur ein, zwei Straßenzüge weiter sehen wir ihn nicht mehr. Und der Supermarkt, in dem wir etwas zu trinken kaufen, könnte auch überall anderswo in Italien sein.

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