Noch eine Bücherkirche, auch in den Niederlanden und wie die Maastrichter Buchhandlung Dominicanen ebenfalls in einer ehemaligen Dominikanerkirche: Die öffentliche Bibliothek von Zutphen in Gelderland befindet sich seit 1983 in der Broederenkerk am nördlichen Rand der Altstadt. Die Kirche und das zugehörige Kloster wurden 1293 von Gräfin Margaretha von Geldern gestiftet, einer Tochter Guidos von Flandern. Da sie in den folgenden Jahrhunderten baulich kaum verändert wurde, bietet sie ein besonders anschauliches Beispiel gotischer Klosterarchitektur und sie war Vorbild für mindestens zwei neugotische Kirchenbauten des 19. Jahrhunderts (die Josefskirche in Groningen und die Veitskirche in Bussum.
Im 16. Jahrhundert verzierte man das Innere mit Deckenmalereien, die vor allem Wappen von Stifterfamilien zeigen. 1772 setzte man dem Bau ein kleines Glockentürmchen auf. Das Geläut darin funktioniert heute noch und ist jeden Tag pünktlich zwischen viertel vor neun und neun zu hören, um die braven Bürgerinnen und Bürger von Zutphen daran zu erinnern, dass nun bald die Stadttore geschlossen werden. Einer charmanten Anekdote zufolge war „Klik veur de Beure“ eine lokal gebräuchliche Zeitangabe für 21.38, weil der Mechanismus des Glockenspiels sieben Minuten vor dem eigentlichen Läuten ein laut vernehmliches Klicken von sich gab.
1591 wurde Zutphen durch die Truppen der protestantischen Niederlande erobert, und die Dominikaner mussten ihr Domizil verlassen. Eine Zeit lang gehörte die Kirche der „waalse gemeente“, der „wallonischen Gemeinde“ Zutphens, also protestantischen Flüchtlingen, die aus den spanischen Niederlanden oder aus Frankreich kamen und ihre Gottesdienste vornehmlich auf Französisch abhielten. Eine eigenständige „welsche“ Gemeinde existierte bis 1821, dann ging sie in der niederländisch-reformierten Kirche auf. Wann der letzte Gottesdienst in der Broederenkerk abgehalten wurde, weiß ich nicht. In den Siebzigern stand sie jedenfalls lange leer, bis sie 1980 von der Stadt gekauft und zur Bibliothek umgebaut wurde.
Auch zu den verantwortlichen Architekten für den Umbau verantwortlich konnte ich nichts herausfinden. Das Interieur mag weniger spektakulär als erscheinen als in Maastricht, aber der Bau hat eine freundliche, entspannte und einladende Atmosphäre. Die großen gotischen Fenster lassen viel Licht in den Raum, die weißgetünchten Wände hellen ihn zusätzlich auf, künstliche Beleuchtung ist sparsam eingesetzt. Die Bibliothek scheint rege genutzt zu werden; wir waren an einem Freitag mittag dort, und da war sie jedenfalls gut besucht.
Vor einigen Jahren wurde mal darüber diskutiert, die Bibliothek an einen anderen Ort zu verlegen. Nach Protesten aus der Bevölkerung nahm man davon aber wieder Abstand. Inzwischen gibt es Pläne, das Areal der Bruderkirche zu einem Kulturzentrum umzugestalten, in dem auch Museen, Veranstaltungsräume und Touristeninformation untergebracht sind.
Eine öffentliche Bibliothek in einem Kirchengebäude unterzubringen, hat in Zutphen Tradition: In einem Nebengebäude der größten Kirche der Stadt, der Walburgiskerk, befindet sich die älteste existierende Bücherei der Niederlande, schlicht De Librije genannt. Die Librije war eigentlich eine Art öffentlicher Lesesaal, der im im 16. Jahrhundert von zwei Kirchenältesten eingerichtet wurde, um Mitbürger und Mitbürgerinnen mit erbaulicher Lektüre auf den Weg des rechten Glaubens zu bringen. Vorbild waren die Büchersäle von Zutphener Klöstern, darunter auch der des Dominikanerklosters. Die Bücher wurden auf Lesepulten ausgelegt und – Erbaulichkeit allein schützt vor Diebstahl nicht – mit Ketten befestigt. Das Anketten von Büchern war gängige Praxis in vielen Bibliotheken und verschwand erst, als Bücher zum Massenprodukt wurden. Heute gibt es nur noch wenige Kettenbibliotheken, die in etwa ihren Originalzustand und -bestand vorweisen können: Zutphen ist eine davon, weitere sind die berühmte Biblioteca Malatestina in Cesena, die älteste öffentliche Bibliothek Europas, und die Bibliothek der Kathedrale von Hereford.
Als öffentlicher Lesesaal diente die Librije allerdings nur etwa dreißig Jahre, dann wurde sie in eine Spezialbibliothek umgewandelt, die vor allem Predigern und Ratsleuten zugänglich war. Im 19. Jahrhundert geriet die Bücherei eine Weile in Vergessenheit, bis man sie um die Jahrhundertwende wiederentdeckte und zum Kulturdenkmal erklärte. Heute ist sie wieder öffentlich zugänglich, allerdings nur im Rahmen einer Kirchenführung. Ein Besuch lohnt sich aber unbedingt: Die Bibliothek ist seit ihrer Eröffnung im 16. Jahrhundert kaum verändert worden, und sie besitzt einen bemerkenswerten Bestand an Originalexemplaren, zum Beispiel einen der frühesten Drucke von Kopernikus‘ De_revolutionibus_orbium_coelestium. (Fotografieren ist nicht erlaubt, deswegen gibt es hier auch keine Bilder, aber eine schöne Fotoserie findet man im Blog des Mediävisten Erik Kwakkel.)
Der Vollständigkeit halber sollte man auch erwähnen, dass es an der Walburgiskerk noch eine zweite Bibliothek gibt, die sogenannte Bovenlibrije („obere Bibliothek“, im Unterschied zur auch „Benedenlibrije“, „untere Bibliothek“ genannten Kettenbibliothek). Dabei handelt es sich um die frühere Bibliothek der Kanoniker und Kapitulare der Kirche, die Ende des 15. Jahrhunderts eingerichtet wurde. Auch diese Bibliothek kann besichtigt werden, allerdings nur von Kleingruppen im Rahmen einer Sonderführung.
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