C86 revisited



The beautiful world of tape design

Hey, das sieht aus wie eine von diesen alten Leercassetten. Auch schon würdig angegrabbelt. Mitbringsel aus einem Charity Shop?

Nee, das Ding hier wird heut nur noch über eBay vertickert. Ich habs mir vor fast zwanzig Jahren im Virgin Megastore gekauft: Mein erster Trip nach London damals.

C86. Wie im Standardkürzel für MusiCassetten, C plus Laufzeit, C90 und so?

Und wie in „Class of ’86“: Ein neuer Hype sollte das sein. Da wollte der NME den neuen Punk erfinden.

Tja, der NME. Der hat wirklich schon mal bessere Zeiten gesehen, was?

Die besseren Zeiten gingen da so allmählich zu Ende, mit dem Verkauf an den Pressekonzern IPC. Aber damals war der NME noch die Bibel. Oder, besser gesagt, die Pravda, mit einem strammen Anteil von Labour-Sozialisten in der Redaktion, die auch schon mal Berichte über Rassenunruhen und den Miner’s Strike auf den Titel hievten. Und die Tapes waren Kult. Ich hab immer noch einige in einer Schuhschachtel rumstauben.

Aber warum ausgerechnet 1986? War 1984 nicht das kultträchtigere Jahr, wegen Orwell und Big Brother?

1984 war ein Fake, und musikalisch eher öde. 1986 war zehn Jahre nach Punk. Und zwanzig Jahre nach den Beatles. Und dreißig nach Rock’n’Roll. Es war Zeit für einen neuen Hype, und weil der nicht kommen wollte, hat man sich einfach einen ausgedacht.

Scheint mir auch so. Viel haben die Bands hier ja nicht gemeinsam.

Na ja, man kann schon das eine oder andere hier hören, was dann ein paar Jahre später als Brit-Pop große Wellen schlug: Sixties-Pop, Power-Punk. Aber stimmt schon: Die musikalische Revolution fand dann erst mal woanders statt, mit dem Durchbruch von HipHop und Techno. Und die Gitarre feierte ihre Renaissance im Grunge. Alles weit weg von der Londoner Redaktion des NME.

Und auch von den Brit-Bands, die damals wirklich groß waren, ist hier keine dabei.

The Jesus And Mary Chain und The Smiths waren in den Charts ja gut etabliert, als C86 rauskam. Und Rave, das nächste große Ding, mußte erst noch erfunden werden. Mit Primal Scream und den Soup Dragons sind zwei Protagonisten hier schon mit drauf.

A propos Primal Scream: Die zwei Minuten von „Velocity Girl“ hier sind doch mit Abstand das Beste, was die je gemacht haben.

Kann man schon sagen. Damals war das noch die Band von dem Typen, der für Jesus And Mary Chain zu uncool war. Aber wenn ich ehrlich bin: „Loaded“ war dann auch ziemlich klasse, der richtige Track zur richtigen Zeit.

C86 war also nur ein Hype ohne Substanz, oder wie?

Naja, Hype und Pop gehören in England eh immer zu sammen. Aber ganz folgenlos war C86 auch nicht: Immerhin war das auch die Zeit, wo Indie noch ein politischer Begriff war, mit dem man trotzdem Platten in die Charts brachte. Ganz zu schweigen davon, dass sowas auch noch im Radio gespielt wurde. Die Bands, die hier vertreten sind, haben an dem Netzwerk mitgearbeitet, von dem dann Techno, Grunge und auch noch Brit-Pop profitierten.

Spannend finde ich ja, dass einige Sachen hier eher nach The Fall klingen als nach Brit-Pop.

Und das sind auch die Tracks, die heute noch am frischesten sind. Für die meisten davon war übrigens das Ron-Johnson-Label verantwortlich: A Witness oder die großartigen Shrubs. Eigentlich paßten die auch gar nicht richtig in die Szene, ebensowenig wie Age Of Chance mit ihrem grandiosen Disco-Lärm – erinnert sich noch jemand an die geniale Cover-Version von „Kiss“? Und dann noch der beefhearteske Country-Pop von Stump.

Stump? Hatten die nicht einen Mini-Hit über Ronald Reagan?

Nicht Reagan, Charlton Heston. „And Charlton Heston/Put his vest on“. Produziert übrigens vom Palais-Schaumburg-Mann Holger Hiller. Große Klasse, aber kein wirklich großer Erfolg. Ansonsten gab es Hits ja nur für Wedding Present, die haben dann Erfolg damit gehabt, immer neue Versionen von „This Boy Can Wait“ aufzunehmen. Und die Pastels hatten Ende der Neunziger auf einmal ein überraschendes Comeback, dank Namedropping durch Jim O’Rourke und so.

Und die Zeit ist jetzt so langsam reif für ein C86-Comeback, oder?

In der Tat, das läuft auch schon: Die Wolfhounds – leider eine von den schwächeren Bands hier – sind bereits wieder aufgetreten. Es gibt auch eine nette Website zum Thema. Mashups mit Motorcycle Boy oder Mighty Mighty kursieren wahrscheinlich auch schon irgendwo …

Update: Grade entdeckt, dass die Wikipedia schon einen Eintrag zu C86 hat, und da gibt’s auch ein Link auf die Website der Zeitschrift Plan B, wo Everett True vor ein paar Tagen seine Version von C86 nacherzählt hat, als – ahem – Frage- und Antwortspiel.

Everett Who?

Ah, come on. Everett True, alias Jerry Thackray, damals unter dem Namen The Legend! Redakteur beim NME und legendär für ausrufenzeichenreiche und grammatisch schlingernde Hymnen auf alle und jeden möglichen (außer die Smiths, die mochte er nicht). Nahm außerdem zwei Singles für Creation Records auf. Ging dann zum Melody Maker, für den er als Everett True nach Seattle flog, um Grunge zu entdecken und mit halb SubPop abzuhängen. Wurde schließlich, scheint’s, zum Erzfeind all der Kurt-Cobain-Jünger, die Courtney Love für die Mörderin halten. Vor ein par Jahren schrieb er das Buch Live Through This und lebt seither als Frühpensionär in Brighton.

Nebenbei, das hatte ich noch ganz vergessen: Die Original-C86 kann man inzwischen komplett downloaden. Mehr steht hier.

Eine Antwort

  1. Trop bon comme article, y a des truc interressant! je vais continuer la lecture du site 😉

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