Aus meinem Zeitungsstapel fische ich eine ältere Ausgabe der Repubblica, vielmehr: eine Sonntagsbeilage vom September 2005. Die hatte ich aufgehoben, weil sich darin ein paar Auszüge aus einem Reisetagebuch von Pier Paolo Pasolini befinden: Schöne kleine Miniaturen einer Fahrt entlang der Strände Italiens, einer Reise dorthin, wo die anderen Urlaub machen. Es geht nicht um das „Italien Pasolinis“, wie die Titelseite behauptet, sondern um das Italien der Touristen.
Das Tagebuch war eine Auftragsarbeit für die Zeitschrift Successo und erschien 1959 unter dem Titel La strada della sabbia. (Die deutsche Übersetzung habe ich im Moment nicht parat.) Anfang dieses Jahres entdeckte der französische Fotograf Philippe Séclier ein paar unveröffentlichte Passagen dieses Tagebuchs; die wurden nun neu herausgebracht, zusammen mit Bildern des Fotografen Paolo di Paolo, der Pasolinis Artikel damals illustrierte, und mit Bildern Sécliers, der 2001 den Spuren dieser Reise gefolgt war.
Von di Paolo stammt das Bild auf der Titelseite der Sonntagsbeilage (die man übrigens hier noch als PDF herunterladen kann): Vom grimmigen Blick, mit dem Pasolini da in die Kamera schaut, darf man sich nicht täuschen lassen. Das Treiben an den Stränden betrachtet er meist ironisch und amüsiert, manchmal auch mit Melancholie und aus der Distanz, die jemand einnimmt, der nicht so richtig dazu gehören will, aber trotzdem mit Sympathie daneben steht.
Zum Beispiel in dieser kleinen Anekdote, die ich hier mal flink und frei übersetze:
An der Bushaltestelle
Ischia, Juli
Noch sind alle Straßen voll von Menschen: Grüppchen von Jugendlichen aus dem Ort, Matrosen, Frauen, die sich mit kleinen Tüchern und Jäckchen vom Basar eingehüllt haben … Der Abend geht vorbei: auf wunderbare Weise – muß ich sagen – er geht vorbei. Ich gehe zurück, um meinen Bus zu nehmen. Aber, mannaggia ‚o demonio, was für ein Saustall, an der kleinen verlassenen Kreuzung, neben einem winzigen geschlossenen Café, warte ich, und warte. Dieser Bus kommt nicht. Stattdessen stellt sich mir ein Jüngelchen vor, so demütig und elend, wie das nur die Neapolitaner können. Er hat mich morgens auf dem Boot gesehen, und das ist der Vorwand für seine kurze Geschichte, die er im übrigen mit viel Würde vorträgt: „Ich bin nach Ischia gekommen, nach Sant’Angelo, um als Kellner zu arbeiten: Mit dem Hotel war ich schon übereingekommen und sie haben mich auf Probe eingestellt. Aber ich bin Kommis, und sie brauchten einen Demichef. Sie haben mich trotzdem auf Probe genommen und den ganzen Tag arbeiten lassen. Am Abend haben sie mich weggeschickt, ohne mir auch nur eine Lira zu geben. Ihr verhaltet Euch aber nicht wie höfliche Menschen, habe ich gesagt. Aber da gab es nichts zu wollen: Sie haben mir nu poco ‚e pesce, nur so’n bißchen Fisch zu essen gegeben und mich nach Hause geschickt. Also auf zum letzten Boot. Aber es gab keine Busse mehr, und um hier runter zu kommen, mußte ich so einen Kleinlaster nehmen: und dem habe ich die letzten 600 Lire gegeben, die ich noch in der Tasche hatte. Jetzt muß ich die Nacht damit verbringen, am Hafen herum zu spazieren, und morgen habe ich kein Geld, um zurück zu fahren.“ Die Geschichte eines Küchenjungen, eine von tausend Geschichten, die man täglich hier hören kann. Ich gebe ihm ein bißchen Kohle. Mein Bus kommt. Ich steige ein. Es ist spät in der Nacht. Ischia ist wie vor zweitausend Jahren …
… Dann schaut er mich an, kalt, distanziert: für einen Augenblick. Plötzlich kehrt sich alles erneut um: Sein Gesicht ist eine Explosion des Glücks. Er streckt die Arme gen Himmel, mit den Handflächen nach vorne: „Ich weiß von nichts!“, bedeutet das. Ich lächle ihn an, diesen Idioten, diesen Strolch des Südens, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich verstanden habe. Aber er läßt die Hände nicht sinken, verharrt so, standhaft, mit den Armen gen Himmel, um sich abzugrenzen, um sich auszuweisen als jemand, der unwissend ist, unschuldig, schutzlos, stumm, blind: „Ich weiß von nichts!“
Das ist der Stolz der Menschen des Mezzogiorno: Du kannst Dein Geld verlieren, aber nicht Deine Phantasie, und wenn Du nichts mehr hast, hast Du immerhin noch eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Aber Pasolini trifft auch Menschen aus anderen Hemisphären, und an der Adria findet er die gleiche erotische Tristesse, der Houellebecq an der Côte d’Azur begegnet:
Der Bademeister und die Deutsche
Vor Rimini, August
Einer der Bademeister sagt beharrlich einer häßlichen Deutschen, die unglücklich kichert, den immer gleichen Spruch vor. Einen Satz, der mit symbolischen Bedeutungen gefüttert sein muß wie das Proust’sche „Cattleya spielen“: „Also, heut‘ abend Frösche essen? Frösche essen?“ „Ja, ja, ja, ja“, macht die Deutsche, mit einem zitternden Lächeln, und sie gibt ihm zu verstehen, er solle schweigen, sonst müsse sie sich übergeben. Und sie geht weg, um am Strand mit ihren Freundinnen zu schnattern. Auch die in der Umarmung gefangene kleine Deutsche befreit sich aus dem muskulösen Obdach ihres Schwerenöters, der aus der Sixtinischen Kapelle abgemalt zu sein scheint: Abweisend ist sie, und verächtlich. Zieht ihre Badeschlappen an. Er steht auf. Oh je. So sieht er dick und plump aus.
Aus einer Statue mit fließenden Formen ist er zu einem Pfropfen geworden. Sie geht davon, zum Sandstrand, durch das Chaos aus Mofas, Sonnenschirmen, Liegestühlen und Beinen. Und er hinterher, wie ein alter Lakai. Er nimmt ihre Hand, bettelnd, mit Nachdruck. „Wann sehen wir uns?“, fragt er sie. Und mit diesem Satz steht das Gewissen Habtacht. Sie entgegnet schlicht, trocken: „Morgen.“ „Morgen!“, setzt er hinzu, ernüchtert, erschöpft vor Leidenschaft. Sie verschwindet. Die wäre somit auch abgehakt. Der Eroberer geht, mit einer Art Erleichterung, zu seinen Kumpels zurück, und gemeinsam laufen sie zum Strand, ganz allmählich, stumm, grinsend, mit müden Schritten, dabei nach hinten blickend, suchend, unter den unzähligen.
Es ist seltsam, dass dieser humane Beobachter mit dem Fotografen di Paolo nicht wirklich zurecht kam. Beide hatten die Reise gemeinsam angetreten, gingen dann aber getrennte Wege. Die Rolle des stillen Beobachters lag Pasolini besser:
Interviews führte er nicht, und er machte sich auch keine Notizen. Oder besser gesagt, er machte sie nur im Kopf. Er beobachtete viel, und schwieg, wie gewöhnlich. Aber dann schrieb er gute Texte.
Die es hoffentlich bald auch auf deutsch gibt.
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