Web und Wahrheit


Das Web ist bei weitem nicht so schlecht wie sein Ruf, heißt es in einem Artikel des Internet-Magazins First Monday:

While critics are correct that there are many error-riddled web pages, on the whole the web presents a relatively sound portrayal of historical facts through a process of consensus. With the right tools, these facts can be extracted from the web, leaving the more problematic web pages aside.

Ein solches Tool haben Dan Cohen und Roy Rosenzweig, die Autoren des Artikels, eingesetzt, um die Zuverlässigkeit historischer Informationen im Web zu überprüfen: H-Bot, eine von Cohen und Simon Kornblith entwickelte Agenten-Software.

Die These von Cohen und Rosenzweig: Einzelne Websites mögen Irrtümer und Nonsens beinhalten. Aber in der Aggregation aller seiner Inhalte hat das Web „recht“, extreme Abweichung neutralisieren sich gewissermaßen in der Quersumme aller Informationen. Keine neue Idee, im Grunde ist das ja das Rezept von Google, und die Vorstellung von einer diskursiven Meta-Schlauheit der Massen ist Grundvoraussetzung für das meiste, was uns im Web 2.0 begegnet.

Google ist auch das Hilfsmittel, dass H-Bot beim Durchforsten des Internets nutzt. Das Tool analysiert nach statistischen Kriterien, welche Informationen aus dem Internet gezogen werden, wenn eine konkrete Frage gestellt wird, etwa „Wann starb Benjamin Franklin?“ (In der öffentlichen Beta-Version gibt es allerdings eine Vorauswahl der Quellen, deren Ergebnisse berücksichtigt werden.)

Cohen und Rosenzweig verglichen die Resultate von H-Bot mit den Angaben in einem wissenschaftlichen Lehrbuch. Und kamen dabei zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Zeitschrift Nature, als sie vergangene Woche wissenschaftliche Artikel in der Wikipedia und der Encyclopedia Britannica verglich: Die Unterschiede sind marginal. H-Bot liegt mit den statistisch ermittelten Antworten erstaunlich oft richtig. In einigen Fällen – etwa bei einem strittigen Geburtsjahr – reflektierte H-Bot sogar den aktuellen Stand der Forschung. Cohen und Rosenzweig nutzten die Software schließlich, um den Multiple-Choice-Test eines gängigen Geschichtsexamens auszufüllen: H-Bot bestand auch diesen Test.

Einwandfrei läuft die Software aber noch nicht. Drei Probleme stellen sich im wesentlichen:

  1. Disambiguation: Das Tool kann identische Namen nicht unterschiedlichen Personen zuordnen, also Kaiser Karl V. nicht von König Karl V. von Frankreich unterscheiden
  2. Die „Quersumme“ der Informationen sind nicht unbedingt „Fakt“, sondern nur das, was allgemein für richtig gehalten wird. Ein gesellschaftlicher Konsens lässt sich aber auch ermitteln, wenn man ahistorische Fragen stellt, etwa „Wann landeten die UFOs in Roswell?“ oder „Wer ermordete Josef Stalin?“ – auch das wird vom H-Bot brav beantwortet
  3. Bisher kann der H-Bot nur Fragen beantworten, die enzyklopädische Daten abfragen: „Wer war George Washington?“, „Wann starb Shakespeare?“. Probleme hat die Software aber noch mit Fragen nach Orten, und vor allem mit „analytischen“ Fragen nach dem „Wie?“ oder „Warum?“ eines Ereignisses.

Man kann es im Grunde so zusammenfassen: Das Internet scheint zumindest den gesellschaftlichen Konsens über das, was als „wahr“ und „richtig“ akzeptiert wird, mit erstaunlich großer Genauigkeit abzubilden. Zumindest gilt das wohl für die angloamerikanische Hemisphäre. Das Web als Fundgrube für eine Archäologie des Wissens: Foucault hätte seine Freude daran. Um die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Webs zu beantworten, muß man freilich noch ein bißchen weiter bohren.

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