Du bist schon lange nicht mehr hier gewesen, in der Philharmonie, deren Eingangsbereich so gar nichts von dem Glanz und der Großartigkeit hat, die Du mit diesem Wort verbinden willst. Es sieht hier aus wie in einer beliebigen Stadthalle, denkst Du, und schaust Dir das Publikum an, das sich hier eingefunden hat: Menschen, die man einzeln schon mal hier und da treffen kann, die aber in dieser großen Menge eine ganz seltsame Menage bilden. Musiklehrer mit langen, graumelierten Haaren und Bauchansatz, an der Seite die Lebensabschnittsgefährtin, in betont lässiger Bluse und Jeans. Gesetzte Bibliothekare, hager, mit Spitzbart, Cordjacke und Ellbogenpolster. Oberstudienrätinnen mit Wolljersey in schreienden Karos. Mittelständische Vorstandsdelegationen im Zweiteiler, samt Damenbegleitung in Satinkostümen mit riesigen Skarabäus-Broschen. Kaum jemand hier ist unter Fünfzig, und die wenigen, die es doch sind, tragen einen schwarze Rollkragenpullover und Ziegenbart. Welche Laune des Schicksals hat die wohl alle gecastet, um ein Jazz-Konzert zu besuchen, fragst Du Dich.
Du gehst in den Konzertsaal, in dessen Eingeweiden Du früher, als Student, an die hundert Mal Notenpulte, Schnakenberger und Konzertflügel hin- und hergeschoben hast, Flügel wie der, der da auch jetzt vorn auf der Bühne steht. Seither hat der Raum in Deinem Kopf etwas an Stabilität verloren: Du weißt, da unter der Bühne ist noch ein Hohlraum, da sind Gänge und Verliese, von denen alle hier oben gar nichts ahnen. Dann setzt Du Dich auf einen der Klappstühle, die gar nicht fest eingelassen sind im Boden, sondern mit einem leichten Handgriff herausgedreht werden könnten, einem Handgriff, den Du wahrscheinlich mit ein bißchen Überlegen wieder hinbekommen würdest. Und Du lauschst dem Geräusch der Menge um Dich herum, das wirklich nur ein Geräusch ist, kein Krach, anders als bei den Konzerten, die Du sonst so besuchst, es ist hier mehr das freundliche, aufgeregte Summen eines Bienenschwarms. Sie müssen sich eben schnell noch alles erzählen, bevor das Licht ausgeht, und sie sehen sich ja so selten, immer nur, wenn wieder ein Konzert im Abonnement ist.
Und dann hörst Du die kleine Fanfare, das Summen wird leiser, und ganz langsam kommt jemand von links auf die Bühne. Ein älterer Mann, aber dass er schon älter ist, merkt man nur den grauen Flecken in seinen Haaren. Das Gesicht ist faltig, aber von dort, wo Du sitzt, wirkt es gar nicht so alt. Der Gang des Mannes ist gemächlich, er wirkt ruhig, vielleicht ist er auch ein bißchen müde, das sieht man jetzt nicht so genau. Er trägt einen eleganten schwarzen Kaftan und schwarze Hosen, sehr elegant sieht das aus, und vermutlich wirkt er auch darum jünger als er ist. Lässig winkt er in die Menge, das heißt, winken kann man das nicht nennen: Er winkelt leicht den Arm an und noch etwas die Hand, dann bleibt er kurz stehen und grüßt mit gefalteten Händen oder legt leicht die rechte Hand auf sein Herz.
Die ganze Zeit sagt er kein Wort, auch nicht, als er sich ans Klavier setzt und seine Noten ausbreitet: Keine Hefte oder Bücher sind das, sondern offenbar nur ein paar lose Blätter. Mit der gleichen Beiläufigkeit beginnt er zu spielen, und das mit einer Lässigkeit, als wäre ihm das Spielen selbst gar nicht so wichtig, er schaut eher wie abgelenkt und etwas verwundert in den Flügelkasten. Er wirkt derart in sich gekehrt und mit anderen Dingen beschäftigt, dass er nicht einmal zu bemerken scheint, als plötzlich ein Handy klingelt. Eine ganze Minute läßt er sich da Zeit, dann schwenkt sein Kopf kurz mißbilligend in Richtung Publikum, gar nicht in die Richtung des Handybesitzers selbst, sondern einfach irgendwohin, als wäre jede weitere aufgeregte Geste zuviel und der Vorwurf auch so deutlich genug.
Die Musik perlt vor sich hin, Dein Blick wandert durch den Saal, schön so, denkst Du, mal nur so unkonzentriert nebenher mitzuhören und dabei die seltsamen Dinge hier anzuschauen, das strahlenförmige Gestänge an der Decke, wo die Lichtanlage hängt, oder die silbernen Orgelpfeifen, die Dir niemals wertvoll vorkamen, sondern wie ein paar Kulissenstücke, die man nicht mehr braucht und einfach in der Ecke zusammengeschoben hat. Zwischendurch wird die Musik auf der Bühne mal etwas dynamischer, aber es scheint fast, als ob der Mann am Klavier selbst darüber erschrickt: Verdutzt und etwas mißtrauisch schaut er den Flügel an, der sofort wieder mit leiseren Tönen antwortet.
Dann ist Pause, alles applaudiert, der alte Mann bedankt sich höflich mit leichten Verbeugungen, der rechten Hand auf dem Herz und gefalteten Händen. Du gehst hinaus in den Bienenschwarm, unterhältst Dich und staunst dabei noch einmal über die bunten Karos hier, die schmalen Cordrippen dort, bevor die Fanfare schon wieder nach innen ruft.
Diesmal kommt der alte Mann etwas energischer heraus, aber das ist eine Energie, die man in Mikrograden messen muss. Aber auch die Musik ist jetzt im zweiten Teil etwas dynamischer, scheint Dir, an einigen Stellen wühlt die linke Hand fast wie ein R&B-Bassist, während die rechte die helleren Töne in kantigen Akkorden tanzen läßt. Dennoch spielt er nach wie vor mehr für sich als für irgendjemand um ihn herum, selbst die schnelleren Passagen kommen so nebenbei, als sei das alles eigentlich gar nicht so wichtig. Dir fällt gerade auf, dass er sich nach der ersten Hälfte abtrocknen mußte, und komischerweise beschäftigt Dich die Frage, wie jemand ins Schwitzen kommen kann, der so unangestrengt wirkt. Wieder klingelt ein Handy, und erneut dauert es eine ganze Weile, bis der alte Mann aus dem Fluß seiner Töne aufblickt, nur geht diesmal der vorwurfsvolle Blick in die Reihen, die hinter der kreisförmigen Bühne sitzen.
Der Applaus ist lange, aber nicht tosend, auch hier, so kommt es Dir vor, ist man darum bemüht, einen ausgesprochen höflichen Lärm zu bewerkstelligen. Der alte Mann verbeugt sich ebenso höflich, er bekommt einen Blumenstrauß, und setzt sich noch einmal ans Klavier und spielt noch ein bißchen vor sich hin. Dann steht er auf, winkt und verbeugt sich leicht, geht langsam und würdevoll von der Bühne, und Du denkst, dass es Dich kaum wundern würde, wenn er jetzt in seine Garderobe geht und da einfach auch ans Klavier setzt und weiterspielt.
Du gehst hinaus mit dem Bienenschwarm, dessen Summen ein bißchen müder, vielleicht auch nur entspannter wirkt als am Anfang. Es ist jetzt an der Zeit, an den Baustellen der U-Bahn vorbei zu stolpern, durch die eisige Kälte in die finstere Altstadt hinein, und dann was zu trinken. Große Entspannung macht durstig.
(Das Foto von Ssirus W. Pakzad stammt von hier. Den mißmutigen Blick nach dem Handyklingeln gibt es näherungsweise hier.)
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