Im Untergeschoss des Bochumer Schauspielhauses steht ein Whirlpool. Dass es ein Whirlpool ist, merkt man allerdings erst ab der Mitte des Stücks, das um ihn herum und dann auch in ihm drin gespielt wird: Erst sieht man nur ein hölzernes Gestell mit einer Kunstlederpolsterung obendrauf, so als hätte man einen Futon auf die Sitzbänke einer Sauna montiert.
Lieber Gott, mach mich blind wird hier gespielt, das erste Theaterstück von Wilhelm Genazino. Das ist ein Kammerstück im besten Sinn: Eine fünfstimmige Fuge über das Älterwerden, den Verfall des Körpers und das Dahindämmern von Sehnsüchten.
Man muss das Stück musikalisch sehen, denn eigentlich passiert hier nicht viel: Man sieht ein alterndes Ehepaar, das sich aus dem Weg zu gehen versucht, eine ehemalige Geliebte, die ihr Altern nicht ertragen kann, und den Sohn und die Schwiegertochter, die ihre Körper schon hassen, bevor sie wirklich zu altern begonnen haben. Es geht um die existenzielle Verzweiflung, die verschwitzte Haare, rote Gesichter und Körperwärzchen auslösen können. Genazino gibt diesen Verzweifelten eine trotzige Würde, indem er ihre Gesichtsrosenkriege zu scharfen, pointierten und bei aller Resignation eleganten Dialogen verwebt: „Auf der ganzen Welt gibt es keine Bluse, die mein Gesicht mildert“, sagt die Schwiegertochter, und das ist einer dieser Sätze, die ein ganzes Leben erklären.
In einigen Rezensionen ist dem Stück vorgeworfen worden, dass es zu wenig Handlung biete und zu monothematisch den Obsessionen seiner Figuren folge. Da hat man vielleicht übersehen, dass das auch in den Roman schon Genazinos Thema ist: Wie man damit umgeht, dass das Leben nun mal selten die dramatischen Bögen schlägt, die man von ihm erwartet, ob man dabei resigniert oder wenigstens ein bißchen frische Luft schnappen geht.
Auf der Bühne darüber zu sprechen, dass nichts passiert, oder zumindest nichts von dem, was man haben möchte, ist natürlich schwierig. In einem Roman hat man es da etwas einfacher: Wenn die Dinge schon nicht groß werden wollen, kann man wenigstens darüber plaudern. Mit dem Whirlpool im Zentrum der Bühne hat Regisseur Christian Tschirner seinem Ensemble nicht wirklich einen Gefallen getan. Wie ein schwerer Trümmer liegt das Ding in der Mitte, die Bunkerarchitektur des Theaters unter Tage tut ihr Übriges dazu, und wo ein Tanz ums feuchte Kalb hätte stattfinden können, wirkt das Gegen- und Nebeneinander der Protagonisten oft schematisch und gehemmt.
Klaus Weiss, der den mißgelaunten Patriarchen dieses Ensembles mit viel Gusto spielt, macht noch das Beste aus der Situation: Wie ein müder Pascha im Hammam sitzt er da im Becken und läßt alle wissen, dass er eigentlich das ganze Treiben um ihn herum am liebsten einfach so geschehen lassen würde, wenn die anderen ihn nicht ständig als Gravitationspunkt ihrer Welten verstehen wollten. Veronika Nickl, die Schwiegertochter, ist die einzige, die sich dagegen sträubt, und darum auch die zweite spannende Figur dieser Inszenierung: Wie ein nervöses, selbstzweiflerisches Atom titscht sie um den apathischen Nukleus, der im Becken vor sich hindämmert.
Das übrige Ensemble scheint dagegen etwas unentschlossen, wie weit es das Stück ins Boulevardeske schieben darf, ohne eine plumpe Beziehungs-Comedy daraus zu machen. Mark Oliver Bögel gelingt das am wenigsten, allerdings hat er auch das Pech, dass der Sohn die am geringsten ausgemalte Figur des Stückes ist. Aber das versucht er für meinen Geschmack mit zu viel Kieksen in der Stimme und Grimassieren im Gesicht auszugleichen. Margit Carstensens Ehefrau hätte ein bisschen mehr Zynismus und Bösartigkeit vertragen können, ihre Giftpfeile treffen nicht immer mit der Wucht, die sie vielleicht haben sollten. Veronika Bayers Geliebte ist mir am Anfang eine Nuance zu überdreht, hat dann aber, in der mißlungenen Verführung des Familienvaters im Pool, eine der besten Szenen des Stücks.
So ein wenig ist diese Inszenierung wie das Schauspielhaus selbst: Mit seiner klaren und nüchternen 50er-Jahre-Architektur und dem keilförmigen Grundriß könnte es ein interessantes Element sein, um einen langweiligen innerstädtischen Platz zu strukturieren und zu pointieren. Aber das Drumherum ist zu wirr und zu unpräzise, um es wirklich zur Geltung kommen zu lassen. Schade drum.
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