Last Exit Solingen


Diese Stadt ist eine Falle. Und Du steckst unrettbar drinnen, sobald Du die Autobahn verlassen hast. Scheinbar harmlos winden sich breite Straßen in die Höhe, und nichts lässt ahnen, dass man sich auf dem Weg befindet in ein Epizentrum der Durchschnittlichkeit. Erst wenn die Mehrfamilienhäuser ihre Reihen dichter schließen und der Blick verzweifelt nach einem Horizont sucht, weißt Du, wo Du hinein geraten bist.

Wo man keine farblosen Mehrfamilienhäuser sieht, dann sind da Matratzengeschäfte und feinmechanische Betriebe. Dazwischen fahle beleuchtete Imbißbuden, in denen dicke Männer mit leerem Blick an großen Messern herumschleifen. Alles sieht aus wie Vorstadt, in den Grünanlagen wetteifern Bäume und Spielgeräte um den größtmöglichen Eindruck an Verrottenheit, und Dutzende rennen auf den Straßen umher, um nicht in ihren finsteren und erstaunlich ungepflegten Häusern untergehen zu müssen.

Aus reiner Bösartigkeit haben die Stadtväter weitgehend darauf verzichtet, dem ahnungslosen Reisenden den Weg durch die Stadt zu beschildern. Weil es nichts zu sehen gibt, soll man sich eben das Nichts eine Ewigkeit lang anschauen. Wortlos kreisen Dutzende verzweifelter Autofahrer über die kaum unterscheidbaren Straßen, hangeln sich von Ampelkreuzung zu Ampelkreuzung, in der bangen Hoffnung, doch irgendwo einen Hinweis zu entdecken, der wieder herausführt aus dieser faden Hölle. Ein Auto hält neben Dir, am Steuer eine Frau, der die Hitze die Haare an die Stirn geklebt hat, sie wirkt müde, aber in ihren Augen flackert ein unbeschreibbares Grauen: „Ohligs!“, stöhnt sie. „Ich wollte doch nur nach Ohligs!“ Du weißt nichts zu antworten, auch nicht, als sie fast aus dem Wagenfenster stürzt und noch einmal „Ohligs!“ krächzt. Glücklicherweise schaltet die Ampel um, und wortlos fährst Du davon. Vom Bürgersteig schauen Dir finstere Gestalten zu, die rachitische Hunde an viel zu kurzen Leinen über den Asphalt zerren.

Schon die Topographie der Stadt kann einen in den Wahnsinn treiben. Gewissenlos fläzt sich diese Stadt hügelauf hügelab, ohne dem müden Auge auch nur einen Punkt der Orientierung zu bieten. Hat man endlich eine Straße gefunden, die bergab und hinaus zu führen scheint, ja die sogar von Feldern und Wiesen gesäumt wird, muss man bald erschreckt feststellen, dass man sich nicht wirklich weg bewegt, einfach nur tiefer fällt, immer tiefer, bis man in einem schluchtartigen und finsteren Tal aufschlägt, über das sich spinnennetzgleich eine Eisenbahnbrücke reckt. Apathische Alte sitzen über fade Apfelkuchen gebeugt und rühren in brackigem Kaffee. Über die Brücke rumpelt bedrohlich langsam ein roter Regionalzug, der immer neue Menschen in den Verdauungstrakt dieser seltsamen Stadt schleift.

Du raffst Deine letzten Kräfte zusammen, dein Auto jagt heulend bergan, nur um Dich wieder in die labyrinthischen Straßen zwischen den gesichtslosen Häuserreihen zu führen. Wie zum Hohn thront auf der höchsten Stelle ein Porsche-Händler, schon von weitem kann man den Schriftzug leuchten sehen: Als ob es irgendjemanden gäbe, der sowas hier brauchen könnte. Hinter dem Schaufenster steht mit diabolischem Grinsen ein fetter Verkäufer, der sich triumphierend die Hände reibt. Außen ans Fenster sind ballonseidene Männer geklebt, und ihre Beine werden von den rachitischen Hunden benagt.

Müdigkeit überkommt Dich. Und Du reihst Dich ein in die Phalanx der ziellos herumrollenden Autos, bereit, Dich in Dein Schicksal zu ergeben. Du kannst gerade noch so lesen, was auf den Kennzeichen der Autos steht, fast alle kommen aus dem näheren Umkreis: Pendler oder harmlose Geschäftsleute, die ähnlich wie Du in die Falle dieses Bermuda-Dreiecks der Biederkeit gegangen sind. Leise, ganz leise kommt Musik aus dem Radio, und der Motor summt in der gleichen Tonlage mit: So high, so low. Solingen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert