Auf der Suche nach Literatur über die französischen Alpen fiel mir auch dieses alte Fischer-Taschenbuch in die Hände: Todesschatten in Savoyen von einem A.E. Ellis, über den der Klappentext geheimnisvoll raunt, es sei
das Pseudonym eines englischen Schriftstellers. Der Autor wünscht dieses Pseudonym zu wahren. Sein eigentlicher Name und seine Lebensdaten müssen daher ungenannt bleiben.
Der deutsche Titel ist, wie so oft, irreführend und banal: „Todesschatten in Savoyen“, das klingt nach einem trashigen Kriminalroman mit etwas Lokalkolorit. Der Originaltitel ist einfacher und treffender: The Rack, die Folterbank. Es geht nämlich um eine exemplarische Geschichte: Um den Aufenthalt in einem Tuberkulose-Sanatorium, den „Schatten auf der Lunge“, und um eine existenzialistische Stilisierung von Krankheit und ärztlicher Bevormundung zu einer Art conditio humana. Dass das Sanatorium in den Alpen liegt, ist beiläufig: Die Berge spielen selbst als Kulisse kaum eine Rolle, aber sie sind eine zusätzliche Verdopplung der Anstaltsmauern, die die Patienten von der Außenwelt trennt.
Ellis ist tatsächlich ein Mysterium: Über Google läßt sich nicht viel über ihn herausfinden. Sein „eigentlicher Name“ ist zwar bekannt: Es handelt sich um einen Derek Lindsay, von dem es heißt, dass er in den Londoner Theater- und Filmzirkeln der Sechziger und Siebziger Jahre unterwegs war und Freundschaften mit prominenten Gestalten wie dem Kritiker Cyril Connolly und dem amerikanischen Sci-Fi-Autoren Ray Bradbury pflegte. Es gibt noch mindestens ein Theaterstück von ihm, The Rack blieb allerdings der einzige Roman und das einzige Buch von einiger Wirkung. (In einer Amazon-Rezension findet sich ein Hinweis auf die Autobiographie von Andrew Sinclair, in der Lindsay wohl auch auftaucht.)
Die scheint recht groß gewesen zu sein: Der Klappentext der deutschen Ausgabe zitiert eine Kritik des New Yorker, die Ellis einen „literarischen Pionier“ nennt, weil er als „erster englischer Schriftsteller […] das Geheimnis zerstört [hat], mit dem die Tuberkulose bisher literarisch mystifiziert wurde“. Im Internet kann man eine alte Rezension aus dem Time Magazine finden, die auf Thomas Manns Zauberberg anspielt (Tragic Mountain) und auf lobende Besprechungen u.a. im Times Literary Supplement verweist. Graham Greene hielt das Buch sogar für ein „masterpiece“: So steht es im Klappentext einer englischen Neuausgabe, die erst im Frühjahr 2006 auf den Markt kam (und erstmals Lindsays Namen auf dem Cover nennt).
Leicht herauszufinden ist der Ort, wo die Geschichte spielt: Im Roman heißt er Brisset, gemeint ist Plateau d’Assy, ein Teil der Gemeinde Passy im Arve-Tal, nicht weit von Chamonix. Der Weiler erlebte in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg einen wahren Boom in der Ansiedlung von Tuberkulose-Sanatorien. Die Lage war optimal: Plateau d’Assy liegt auf etwa 1.000 Metern Höhe, auf einer Art Balkon mit Südlage, aber auch weit genug weg von den Orten, die damals schon touristische Zentren waren und deren Fremdenverkehr man nicht mit dem Anblick abgemagerter und tuberkulöser Patienten belasten wollte.
Die Gemeinde feiert das Projekt auf ihrer Website als Beweis dafür, wie man „den Zusammenhang zwischen dem Menschen, seinem Lebensraum und seiner Umwelt“ in Anschlag brachte, verweist auf die „sehr präzisen geographischen Kriterien“, nach denen die Ansiedlung erfolgte und nennt die Gebäude „bedeutende Zeugnisse für das technische und ästhetische Genie der Architektur des 20. Jahrhunderts in den Bergen“. Einige der Gebäude gibt es heute noch, inzwischen ist das Plateau d’Assy allerdings eher ein Wintersport-Zentrum und das Sanatorium Guébriant zum Beispiel, das einige Parallellen mit dem im Text erwähnten Sanatorium Les Alpes aufweist, ist mittlerweile ein Ferienheim für Urlauber aus dem Großraum Paris. Ein weiteres architektonisches Zeugnis für den kuriosen Boom dieses Ortes ist die Kirche Notre-Dame de Toute Grâce, ein farbenfrohes und kurioses Panoptikum moderner religiöser Kunst, mit Fresken und Skulpturen von Künstlern wie Leger, Chagall oder Braque.
Die fröhliche Selbstdarstellung der Gemeinde wird im Roman freilich in schwärzeste Töne getaucht: Als Paul Davenant, der Held des Buchs, in Brisset auftaucht, ist der Ansiedlungsboom schon ein paar Jahre alt, aber der 2. Weltkrieg hat dafür gesorgt, dass man sich über die Zahl der Patienten nicht beklagen muss. Die Sanatorien sind weniger Heilanstalten als Wirtschaftsbetriebe und Spekulationsobjekte, und Davenant gerät in die Mechanik einer mitleidslosen Maschinerie, die den Kranken nicht als hilfebedürftiges Subjekt sieht, sondern als Rohmaterial für den Verschleiß von Medikamenten und Behandlungsmethoden.
Davenant ist für diese therapeutische Maschine genau das richtige Opfer: Ein Mann ohne Eigenschaften und ohne Vergangenheit, ein wahrer Leidensmann, der die verschiedenen Prozedere, das Auf und Ab von scheinbarer Heilung und frustrierenden Rückfällen fast teilnahmslos über sich ergehen läßt. Schon bei seiner Ankunft in Brisset ist er wenig mehr eine Ziffer, ein Phantom, das mit der Außenwelt nur noch in prekärem Kontakt steht:
Am äußersten Ende des Wagens saß eine Gesellschaft von sechs jungen Engländern. […] Nur einer von ihnen wirkte offensichtlich krank, ein Eindruck, der mehr durch seine Geschichtsfarbe und seine Haltung hervorgerufen wurde als durch seine sonstige Konstitution. […] Es fiel ihm sichtlich schwer, sich auf der Holzbank aufrecht zu halten. Seine blonden Haare waren ihm in die Stirn gefallen, während er sich mit dem Kopf gegen die von innen gefrorene Scheibe lehnte. Der Zug ruckte plötzlich an, und sein Kopf fiel vornüber. Ein Student, der neben ihm saß, packte ihn an der Schulter und fragte:
„Fühlst Du Dich nicht wohl, Paul?“
Davenant wird auch im Rest der Erzählung vor allem von außen betrachtet und angepackt werden, sein Körper wird hin- und herbewegt, betrachtet, aufgeschnitten, mit Medikamenten angefüllt, von Schweiß- und Sekretausbrüchen geschüttelt, ohne dass er es kontrollieren kann. Die Therapie bringt keine Heilung, sie ist nur eine Verlängerung der Krankheit, weil sie dem Patienten sein Ausgeliefertsein deutlich macht:
Dr. Vernet erwartete Paul am Eingang zum Service Médical. „Sie sind jetzt so weit hergestellt, um eine neue Tortur ertragen zu können“, verkündete er sehr leutselig. „Sie wird ihnen aber ganz und gar nicht gefallen.“ Und mit einer feierlichen Verbeugung schob er den Rollstuhl in den Operationssaal.
Die große Stärke des Buchs liegt in der kompromisslosen und unsentimentalen Präzision, mit der die therapeutischen Maßnahmen und die körperlichen Vorgänge, aber auch die Banalität und Langeweile des Klinikalltags von Ellis beschrieben werden, und ich nehme mal an, dass er das alles aus eigener Anschauung kannte. Da gelingen ihm einige kräftige und eindrucksvolle Bilder, und man merkt die Nähe zur existentialistischen Literatur: Der hilflose Patient als Zahnrädchen im Räderwerk einer außer Rand und Band geratenen und mitleidslosen Apparatur.
An anderen Stellen merkt man dem Roman manchmal an, dass ihn jemand erzählt, der zwar die großen englischen Erzähler wie Somerset Maugham oder Waugh gelesen haben dürfte, dem aber die eigene Routine im Erzählen fehlt: Die Geschichte hat hier und da Blähungen und Redundanzen, einige Figuren und Plots sind arg grob geschnitzt, Handlungsfäden tauchen auf und gehen wieder verloren. Andererseits verstärkt die Blässe der Figuren und das gelegentlich ziellose Mäandern der Erzählung auch wieder die Haltlosigkeit und Monotonie im Sanatorium.
Trotz der Schwächen ein seltsames und lesenswertes Buch, im Gestus näher an Wittgensteins Neffen als am Zauberberg (auch wenn Stil und Tonalität von beiden gleich weit entfernt sind). Mich würde mal interessieren, ob es damals auf das Buch in der deutschsprachigen Öffentlichkeit irgendeine Resonanz gegeben hat. Die englische Neuauflage scheint auf relativ wenig Echo gestoßen zu sein. Schade drum.
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