Früher, in langweiligen Schulstunden, hab ich auch gerne Comics und Landkarten gezeichnet: Mit Filzstift oder Kugelschreiber, auf Ringbuchblätter in DIN A 5 oder, wenn grade nichts anderes zur Hand war, an den Rand oder auf die Umschläge von Schulheften und Lehrbüchern. (Das Argument meiner Eltern, dass solche Verzierungen die Weiterverkaufbarkeit von Lehrmaterialien erheblich einschränken, wollte mir auch nach lautstarken Diskussionen nicht so recht einleuchten.) Der Zusammenhang zwischen Comics und Landkarten ergab sich dabei von selbst: Weil das Talent für die kartographische Darstellung von echten Ländern nicht ausreichte, hab ich lieber Staaten aufgemalt, die allenfalls in Comics existierten. Ich bezweifle, dass es irgendwo eine vollständigere Erfassung der Topographie Syldaviens gibt als in der Loseblattsammlung, die in einem kleinen Schuhkarton im Keller vor sich hin gilbt.
Die Bilder von Aleksandra Mir kann ich darum nur mit ein bißchen Neid betrachten. So hätte ich damals auch gerne gezeichnet: Mit schönen dicken und sehr schwarzen Filzern, in großen Formaten (bis zu 20 Quadratmeter) und in einem bunten Mashup von Comic, Hochkunst und Kartographie. Die Schweiz und andere Inseln heißt eine aktuelle Ausstellung im Kunsthaus Zürich. Für mich eine der spannendsten und originellsten Ausstellungen dieses Jahres, nicht zuletzt deshalb, weil man da sehen kann, dass der Weg von der Kartographie zur Karikatur viel kürzer ist, als man so denkt, und weil natürlich auch reale Staaten ihre ausgedachten, mythischen und phantastischen Aspekte haben, die man als Comic kommentiert werden können.
Inseln sind die Comic-Figuren unter den Landschaften: Klar abgegrenzt, mit überschaubaren Eigenschaften und darum hervorragend geeignet, Raum und Zeit nach eigenen Regeln zu organisieren. Kein Wunder, dass Schrifsteller die Insel gerne als Szenerie wählen, wenn es darum geht, von Utopien zu reden. Und dass sich die Insel darum als Metapher auch auf Länder anwenden läßt, die sich nicht durch Küstenlinien, sondern durch Ideologien abgegrenzen. Schon im Wilhelm Tell ist die Rede von der Schweiz als „selge Insel […] wo sich die Falschheit noch nicht hingefunden“. Alexandra Mir übersetzt das ins Bild der Insula Svizzera inmitten eines stürmischen Ozeans, das auch im Olaus Magnus nicht schlecht aufgehoben wäre. Auf einem anderen Bild schwebt die Schweiz als (freilich etwas ausgezackter) Asteroid durch eine glamouröse Planeten-Party.
Inseln lassen sich aber auch anderswo finden: Von oben betrachtet werden die chinesischen Millionenstädte zu einem Milchstraßen-Archipel aus Stecknadelköpfen, die man nur noch anhand von Icons differenzieren kann. Ein anderes Bild verfremdet Böcklins Toteninsel ins Logo einer Metal-Band.
Natürlich können auch Epochen insular werden. Das kann man in der Zürcher Ausstellung auch hier und da sehen. (Online sollte man sich ein paar der USA-Bilder Mirs angucken).
Das Festland schaut immer ein bißchen sehnsüchtig auf die Insel: Die Uhren gehen langsamer dort, das Gras ist immer grüner und die Filzstifte immer dicker. Man kann sogar versuchen, sich die ganze Welt als Insel nachzubauen. Und wenn das nicht klappt, eine Insel kapern, um sich ihren Reichtum anzueignen oder, als dritte Möglichkeit, die Seligen dort ein bißchen ärgern, in dem man ihr Paradies wieder mit dem Alltag kurzschließt, so wie das die protestierenden Studenten gemacht haben, als sie die Tom-Sawyer-Insel in Disneyland besetzten, um gegen den Vietnam-Krieg zu demonstrieren (auch davon gibt es ein Bild auf der Ausstellung).
Wem die Insel nicht ausreicht, dem bleiben dann noch die Berge:
so scheinen diese jenen gleich,
nur mit dem unterscheid allein,
dasz inseln berg‘ im wasserreich,
und die gebirg im luftreich inseln sein.– Barthold Hinrich Brockes
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