Lissabon ist die Stadtwerdung des Grunge. Alles hier ist von einer dezenten und pittoresken Schrabbeligkeit. Es gibt kaum neue Gebäude in der Stadt. Von den alten Bauten dagegen steht über die Hälfte leer, viele davon offensichtlich schon sehr lange, als würde der Leerstand bewußt gepflegt und als touristischer Reiz inszeniert. (Das dem nicht ganz so ist und Wohnungsnot ein akutes Problem, kann man an einigen wütenden Graffiti und Demonstrationsaufrufen erkennen.)
Man kann es sehr gemütlich angehen lassen in Lissabon. Es ist zwar Karneval, aber so richtig viel ist nicht los. Außer den Kindern ist kaum jemand verkleidet: Kleine Cowboys, Supermännchen, Prinzeßchen, ausstaffiert mit Kostümchen, die man für ein paar Euro in chinesischen Ramschläden von der Stange kaufen kann. Vor einem dieser Läden steht ein kleines Mädchen, oder besser gesagt: eine Kreuzung aus niedlichem Frosch und leicht schmolligem Robin Hood, und bekämpft die Langeweile mit dem Schälen von Trauben.
Im Bairro Alto hat das Wort „Vergnügungsviertel“ eher einen melancholischen Aspekt. Vielleicht liegt das daran, dass die Touristen mit den Taxis direkt vor die Fado-Lokale gefahren werden, jedenfalls sieht man auf den Straßen nur einige Studenten, die die wenigen Dealer umschleichen. Auch die stehen eher melancholisch herum, als ob sie vom Fremdenverkehrsamt gezielt als Lokalkolorit hierhin delegiert wurden. Ergo spulen sie nur kurz die ein, zwei obligatorischen Fragen ab („Hash? Wanna try?“), um sich dann wieder an die Hauswand zu lehnen und mit den Kollegen zu tratschen.
(Dass es sich dabei um ein touristisches Feature handeln könnte, erklärt vielleicht auch, warum man hier häufiger als anderswo auch von älteren Herrschaften angesprochen wird: Höflich strecken sie einem ein schokofarbenes Klümpchen entgegen, lassen es dann diskret wieder in der Manteltasche verschwinden und spazieren weiter.)
Das Nachtleben der Einheimischen findet wohl eher unten am Tejo statt, wo in die ehemaligen Lagerschuppen und Werkshallen längst Edeldiskos und Nobelrestaurants eingezogen sind. Das ist die einzige Gegend, wo sich Lissabon mal etwas Moderne gönnt. Dann wird auch schon mal richtig hingeklotzt, wie bei den fetten Bunkern des Ansonsten gibt es kaum Neubauten, und die wenigen, die da sind, wirken hier deplatzierter als in anderen Städten. Zum Beispiel der Appartementkomplex in der Rua do Alecrim, die zum Chiado hinaufführt: Der sieht aus wie eine gigantische Nasszelle, weil man trotz der obszönen Überdimensionierung nicht darauf verzichten wollte, auf die lokalen Kachelfassaden Bezug zu nehmen.
Davon abgesehen, räkelt und streckt sich Lissabon über ihre sieben Hügelchen, nach allen Regeln des Hübsch-Dahinräkelns-und-Streckens. Großzügig sind nette kleine und größere Plätzchen über die Stadt verstreut, und die Zahl der Aussichts- und Orientierungspunkte ist, verglichen mit anderen Städten im Süden, wirklich erstaunlich. Die wenigen großen Boulevards und Plätze sind so geschickt in die Szenerie assimiliert, dass sie kaum auffallen. Und an der Praça do Comércio, unten am Flußufer, schafft Lissabon das Kunststück, einen menschenleeren und zugigen Platz nicht gähnend leer erscheinen zu lassen, sondern freundlich und voller Erwartung: Die goldgelben Prunkbauten ringsherum und die Statue der Tugend auf dem Mitteltor schließen sich zu einer Umarmung um den Besucher.
Dass es auch häßliche Hochhausbezirke gibt in Lissabon, merkt man erst, wenn man zum Flughafen fährt: So geschickt sind die hinter den Hügeln versteckt worden. Die häßlichsten Auswüche der Industrie wurden gleich ganz konsequent auf die andere Seite des Tejo verbannt, ans südliche Ufer, so dass sie nur schemenhaft aus dem Dunst auftauchen.
Der Tejo ist hier groß wie ein See, und der Reiseführer erzählt, dass er von den Einheimischen auch Mar da Palha genannt wird: Strohmeer, weil er in der Sonne goldgelb leuchte. Das tut er eigentlich nicht, er schimmert eher silbern wie ein großes Tablett, das von den Sonnenstrahlen mit kleinen funkelnden Kratzern graviert wird. Es gibt hier auch noch andere Namen für den Fluss, die mehr mit dem zu tun haben, was mittlerweile in ihm schwimmt, aber die erwähnt der Reiseführer nicht.
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