Der Lar


Wilhelm Raabe – der deutsche Tschechow? Ich bin gerade auf den Lar gestoßen, Raabes „Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte“ von 1889. Die steht unter dem schönen Motto

O bitte, schreiben auch Sie doch wieder mal ein Buch, in welchem sie sich kriegen

und setzt mit einer ganz wunderbaren Skizze modernen Gelehrtentums an:

In den Büchern sitzt solch ein mit dem deutschen Alterthum sich beschäftigender Universitätsprofessor gewöhnlich in einem Museo und Heimwesen, bei dem Einem unwillkürlich der Name Altdorf im Sinn und in der Phantasie aufsteigt. Wenn der gelehrte Mann aus den Fenstern seiner Studirstube nicht die Krähen im Schnee auf dem klosterhofähnlichen kleinen Marktplatz spazieren gehen sieht, so blickt und riecht er in blühende Lindenbäume und hat bei angezündeter Lampe Abends das Fenster zu schließen, um nicht bei seiner grüblerischen Arbeit zu sehr durch das geflügelte vielgestaltige nächtliche Schwarmgesindel aus der Wissenschaft des Kollegen der Insektologie, gegenüber am Marktplatz, gestört zu werden. […] Professor Dr. Kohl sah Zeit seines Lebens weder im Winter noch im Sommer aus irgend einen zu seinen Studien passenden Klosterhof hinaus; er hatte sich ganz wie Unsereiner mit seinen Idealen und Realitäten in den ganz gewöhnlichen Miethskasernen des neunzehnten Jahrhunderts, und zwar meistens im dritten Stockwerk, zu behelfen. […] Das ist kein Vergnügen für einen scheu angelegten Menschen. Zumal wenn er eine Frau hat, die den Fehdehandschuh, welchen ihr das heutige Leben jeden Tag vor die Füße wirft, jedesmal wacker aufnimmt und – das Bessere immer drei Häuser oder drei Gassen weiterab liegend wähnt.

Man sieht diesen scheu angelegten Menschen förmlich vor sich, wie er in der Mittelmäßigkeit seiner Mietwohnung im dritten Stock an einem Vortrag über die Schädlichkeit des Tabaks brütet (oder doch eher an einer „Abhandlung über den Straßburger Eidschwur Ludwigs des Deutschen“). Hinter der spitzwegerlichen Schrulligkeit lauert die Erkenntnis, dass die Idealitäten und Realitäten des neunzehnten Jahrhunderts nicht viel Platz lassen, um den Kopf weit heraus zu strecken. So sardonisch werden jedenfalls nur wenige Figuren von ihren Autoren aus dem Weg:

Von dem Tode des Professors Dr. Kohl hatte die Welt doch Notiz genommen. Die Lokalblätter hatten die Nachricht von seinem Ableben mit einigen weiteren Ausführungen über Tag und Jahr seiner Geburt, über seinen Studiengang, über seine verdienstlichen litterarischen Leistungen begleitet. Die Fachzeitungen hatten ausführliche Nekrologe gebracht und seiner Bedeutung für seine Wissenschaft einen würdigen Raum gegeben. Auch mündlich war mit Anerkennung von ihm gesprochen worden: er gehörte zu den Todten, die eine Spur, wenn auch eine nicht von Horizont zu Horizont reichende, hinter sich lassen. Seine alte mürrische Frau ließ gar keine Spur hinter sich. Ihr Name erschien nur noch einmal in der Kirchenliste; und dann noch einmal in der Zeitung, nämlich als der Tag der Versteigerung ihres Nachlasses dem Publikum bekannt gemacht wurde.

Aber man stirbt ja auch nicht, um eine Spur zu hinterlassen.

Wir haben Alle jeden Augenblick wenn nicht die Lust, so daß Bedürfniß, uns zu verändern. Wir legen uns von der rechten auf die linke Seite und von der linken auf die rechte; und zuletzt legen wir uns von der Erde in dieselbe, aus dem Leben in den Tod: auch nur aus tief innerlichstem, wenn auch nur selten mehr als dunkel empfundenem Bedürfniß nach Veränderung.

(tbc.)

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