Es ist ein komisches Gefühl, durch den spätsommerlichen italienischen Herbst zu fahren und dabei Roberto Savianos Gomorra zu lesen. Das Meer, die Natur, die Küstenstädte, selbst die abgeschrabbelten kleinen Vororte rings um den Vesuv geben sich alle Mühe, friedlich, vergoldet und im Abglanz einer barmherzigen Sonne auszuruhen. Für einen Nordeuropäer, der den größten Teil des sogenannten Sommers durchnäßt oder durchgefroren verbracht hat, ist das ein Paradies hier. Und dann hätte man sich auch wirklich eine bessere Lekt¨re aussuchen können als Savianos apokalyptischen Totentanz aus dem Bauch der Bestie.
Gomorra ist ein düsteres Buch, und eines, das keine Kompromisse machen will. Saviano geht nah dran, und das buchstäblich: In den Wochen des letzten heftigen Camorra-Krieges 2004/2005 hat er regelmäßig den Polizeifunk abgehört, um dann mit der Vespa dorthin zu fahren. Er ist in den Vororten unterwegs gewesen, hat mit den Menschen dort gesprochen, mit den kleinen, mittelgroßen und größeren Kriminellen, mit Pfarrern, Teenagern, Hausfrauen, Junkies, er hat selbst merkw¨rdige Kisten geschleppt, ohne zu wissen, was darin war, und er hat die Toten gesehen, die der letzte Krieg gekostet hat.
Undercover-Stories, die direkt aus dem Bauch der Bestie erzählen wollen, gibt es schon einige. Aber was Savianos Buch anders macht als andere Mafia-Bücher, ist zweierlei: Einmal die Genauigkeit der Analyse, auf die ökonomischen Zusammenhänge und Verflechtungen, die in den Alltag der Menschen hineinreichen, in die Politik und auch weit tiefer in die Weltwirtschaft, als einem lieb sein könnte. Saviano findet erstaunliche Parallellen zu anderen ökonomischen Tendenzen: Es ist fast eine Art Start-Up-Ökonomie, die sich da um die Jahrtausendwende entwickelt hatte, mit einer in kleineren und flexibleren Einheiten agierenden schwarzen Textil-, Müll-, Bauwirtschaft, mit neuen Wegen der Drogendistribution und vor allem, mit einer neuen Strategie der Rekturierung aus dem Prekariat der Hoffnungslosen, die in den Betonwüsten der neapolitanischen Vorstädte von der Politik vergessen worden waren.
Das Zweite ist Savianos Versuch einer Literarisierung der Ereignisse. Gomorra ist reich an Fakten, aber es ist kein Sachbuch. Viele der Episoden sind inszeniert wie Szenen eines Romans von James Ellroy oder Andrew Vachss. Ein heikles Experiment – das könnte schief gehen und die Unterwelt von Neapel wie der Cast von Reservoir Dogs aussehen, das Buch wäre dann nicht mehr als ein hipper Style Guide für schickes Massakrieren.
Aber bei Saviano gelingt es, weil er – bei aller erzählerischen Freiheit, die er sich herausnimmt – nah an dem bleibt, was die Gewalt auslöst: Angst und Beklemmung. Eine besondere, neurotische Angst, ein Mißtrauen, das sich wie ein Netz auf alle Aktivitäten legt, auf Freundschaften, auf Bar- und Restaurantbesuche, auf Spaziergänge mit Leuten, die man kennt oder doch nicht kennt. Und falscher Glamour kommt schon deswegen nicht auf bei Saviano, weil der von den Camorristen selbst inszeniert wird. Süffisant schildert Saviano, wie selbst die grausamsten Killer und die skrupellosesten Bosse ihre Rollen mit einer Kitschglasur überzuckern, die nicht von dieser Unterwelt zu sein scheint. Sie hören sentimentale napolitanische Liebeslieder, wenn Sie auf dem Weg zu ihren Morden sind. Sie halten die Waffen so, wie sie es in Pulp Fiction gesehen haben. Sie bauen Häser, die aussehen wie in den Hollywood-Filmen oder wie russische Datschen, wenn sie da mal Urlaub gemacht haben. Und wenn sie verhaftet werden, dann versuchen sie auf den Pressefotos so auszusehen, als ob man sie gerade beim Dreh von The Matrix hätte hochgehen lassen.
Es ist eine bizarre Welt, nicht ohne Faszinosum, aber es ist ein düsteres und deprimierendes Faszinosum, weil es die Antwort auf die Frage sucht, wie so eine bizarre, makabre und groteske Welt so ein Gewicht bekommen kann? Das ist eine Frage, die sich in Italien viele stellen: Savianos Buch steht seit Wochen in den Top 10 der italienischen Bestsellerlisten. Ein Erfolg, den er möglicherweise verfluchen wird. Denn die Generalabrechnung mit dem organisierten Verbrechen, vor allem aber die Nomenklatur von Camorristen aus den ersten, zweiten und dritten Reihen, die er aufstellt, haben ihm Kritiken eingebracht, die man keinem wünscht: Ernstzunehmende Morddrohungen aus den Reihen derer, über die er erzählt, darüber ist ja auch in Deutschland berichtet worden.
Es ist ein notwendiges Buch, und ein Buch, dem man seinen Erfolg gönnen würde, wenn es nicht diese deprimierenden Konsequenzen für Saviano hätte. Und wenn man aufschaut aus diesem Buch, dann ist man erstaunt, wie hell der Herbst doch noch sein kann hier in Neapel. Drüben röhrt eine Vespa, man zuckt ein bißchen zusammen und wünscht dem lachenden Pärchen, das drauf sitzt, einen guten Weg nach Hause.
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