Die Bratschistin an meiner Seite hat am Samstag einen seltenen Auftritt in der Kölner Philharmonie. Und als ob das noch nicht genug Grund für meine Anwesenheit wäre, kommt auch noch eine selten gehörte Version von Händels Messias zur Aufführung: Nämlich die Fassung, die Eugène Goossens 1959 für eine Plattenaufnahme von Thomas Beechamanfertigte.
Anhänger einer „authentischen“ Aufführungspraxis sollten da eher fern bleiben. „Authentisch“ ist nichts mehr an diesem Messias, stattdessen gibt es eine ins Monumentale gedrehte und mit unverhohlen spätromantischem Pathos aufgeladene konzertante Extravaganz. Für Barock-Puristen gilt die Beecham-Aufnahme geradezu das Musterbeispiel für alles, was nicht geht: Überwältigung des Hörers, nicht Überzeugung, Sahnetorte statt Konfekt, massenkompatibler Classic Rock statt historisch gestützte Interpretation. Das kann man zum Beispiel hier in dieser Aufnahme von Unto Us A Child Is Born hören: Die schleppende Gravitas des Orchesters, die Chöre, die so ekstatisch jubilieren, als hätte man ihnen den Tee überwürzt, der Pomp und Tingeltangel, mit dem Blech und Becken musikalische Akzente zu Triumphbögen übersteigern – als müßte man den Einmarsch des Messias im Wembley-Stadion begleiten.
Goossens
Trotzdem ist Beechams Version mehr als nur eine banale musikalische Zirkusnummer auf Händels Kosten. Mit dem Abstand der Jahrzehnte klingt sie nicht weniger „exotisch“ als es damals die Versuche authentischer Nachempfindungen gewesen sein dürften. Und sie hat genügend spannende und bizarre Momente, nämlich immer dann, wenn die gelackte Prunkfassade ein paar Sprünge bekommt, wenn ein bißchen zu viel Hysterieund Ekstase im Spiel sind, um diese Feier des Göttlichen als rein christliche Epiphanie durchgehen zu lassen.
Mögilcherweise war Beechams Wahl des Bearbeiters eine ganz gezielte: Eugene Goossens war nämlich wenige Jahre, bevor er Hand an den Messias legte, in einen Skandal verwickelt gewesen, der ihn einen Teil seiner Reputation und vor allem die einflussreichste Position seiner Karriere gekostet hatte. Als Chefdirigent des Orchesters von Sydney und Leiter des Konservatoriums von New South Wales stolperte über eine bizarre Affäre, in der es um okkulte Rituale, magische Praktiken und pornographische Bilder ging.
Bis es dahin kam, hatte Goossens eine respektable Karriere hinter sich gebracht. Der Sohn einer musikalischen Familie (schon Großvater und Vater waren Dirigenten gewesen, aus den Geschwistern wurden selbst bekannte Musiker) hatte Orchester in England und den USA geleitet, 1921 zum Beispiel die englische Premiere von Strawinskys Sacré du printemps dirigiert. Dazu komponierte er eine Handvoll eigener Werke, so etwa an der Schnittstelle zwischen Spätromantik und Moderne, die auch durchaus positive Beachtung fanden. Veröffentlichungen von Kompositionen oder Aufführungen Goossens‘ lassen sich noch hier und da auftreiben.
Norton
1947 ging er nach Australien, und nach allem, was man lesen kann, muss er eine maßgebliche Rolle für die Entwicklung der klassischen Musikszene dort gespielt haben. Er war einer der energischsten Befürworter für den Neubau eines Opernhauses in Sydney und soll auch die Position, an der es sich heute befindet – weithin sichtbar am Hafen – ausgesucht haben. 1955 wurde er zum Ritter geschlagen.
Nur ein Jahr später brach alles zusammen: Die Boulevardpresse hatte sich nämlich an seine Fersen geheftet. Der Zeitung The Sun (nicht zu verwechseln mit dem englischen Pendant) war aufgefallen, dass er sich häufig in Kings Cross, dem Rotlicht- und Künstlerviertel von Sydney, herumtrieb und besonders gerne eine bestimmte Adresse aufsuchte: Die von Rosaleen „Roie“ Norton. Norton war im Mikrokosmos des australischen Underground eine besonders schillernde Figur, Malerin mit einem Faible für groteske, erotische und okkulte Motive und in den Augen der Boulevardpresse Veranstalterin unbeschreibbarer satanischer Séancen und schwarzer Messen. (Eine Auswahl aus Nortons Bildern – zwischen weirdem Expressionismus und dem Kitsch, den sich Heavy-Metal-Bands gerne aufs Cover knallen – kann man hier sehen.)
Der Skandal
Goossens traf sich nicht nur häufig mit Norton – um Recherchen für ein Oratorium zur Apokalypse anzustellen, sagte er später – er begann auch ein Verhältnis und korrespondierte mit ihr. Die Briefe gerieten in die Hand der Presse, wurden von dort an die Polizei weitergespielt und als Goossens 1956 von einem Flug nach England zurückkehrte, ließ der australische Zoll seinen Koffer durchsuchen. Die Fundstücke – Fotos, Filme, Kunstdrucke, Bücher – führten zu einer Anklage wegen Besitzes von Pornographie, Details über Goossens‘ Teilnahme an okkultistischen Sitzungen und S/M-Ritualen drangen an die Öffentlichkeit und zwangen ihn dazu, von seinen Ämtern zurückzutreten.
Warum ausgerechnet Goossens ins Visier der australischen Boulevardjournaille geriet, ist schwer zu sagen: Er war nicht politisch aktiv und auch sonst keine übermäßig kontroverse Erscheinung – sieht man mal davon ab, dass er gerne zeitgenössische Werke aufführte, was beim konservativen Publikum in Sydney nicht immer gut ankam. Aber er war ein Intellektueller – im Australien der Fünfziger Jahre verdächtig genug -, er kam von außerhalb und trug noch dazu einen wenig englisch klingenden Namen. (Die Goossens stammten ursprünglich aus Flandern.) Und dann war er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, und das in einer Stadt, in der die Polizei aus Mangel an eigenen Ressourcen häufig mit der Boulevardpresse kooperierte. In Australien gilt der Fall immer noch als prominentes Beispiel für das geistige und moralische Klima der Zeit, es gibt einen Roman, ein Theaterstück, eine Oper und einen (Dokumentar-)Film dazu.
Goossens selbst kehrte Australien den Rücken und nach England zurück. Dort litt er zwar keine existenzielle Not – die BBC engagierte ihn häufig für Aufnahmen – aber Freunde und Bekannte schildern ihn als gebrochenen und am Boden zerstörten Menschen. 1962, drei Jahre nach der Produktion des Messias, ist er in London gestorben.
Aber was hat diese Affäre nun genau mit dem Messias zu tun? Nun, Beecham dürfte den Skandal verfolgt haben. Der Auftrag zur Umarbeitung des Messias war vermutlich auch eine freundschaftliche Geste (Beecham war der wichtigste Förderer des jungen Goossens gewesen). Der Messias ist, gerade in England, das religiöse Opus schlechthin, ein nationales Monument – ist es da ganz ausgeschlossen, dass der Auftrag dem gefallenen Freund auch die Gelegenheit bieten sollte, so etwas wie eine persönliche Götterdämmerung auszuarbeiten? Dass der dionysische Taumel und die ekstatische Verzückung, in den die himmlischen Chöre hier versetzt werden, mehr sind als nur buntes Ornament, sondern auch ein pantheistisches Programm übersetzen sollen? Das ist vielleicht ein bißchen zu psychologisierend gedacht. Aber es mindert das Vergnügen an dieser seltsamen Fassung des Messias keineswegs, wenn man in all dem euphorischen Wohlklang auch ein paar dämonische Untertöne mitschwingen hört.
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