Ein Tag in Neutral-Moresnet


Kelmis, Dorfplatz

Die Burgenroute ist eine schöne Radtourenstrecke im Osten Belgiens: Sie führt rund 80 km über meist wenig befahrene Straßen und in leicht welligem Gelände durch die kleinen Dörfchen in der Nähe des Dreiländerecks. Etwa ein Dutzend Burgen und Schlösser liegen entlang der Strecke, einige davon mit einer weit zurückreichenden Geschichte, allerdings merkt man den meisten auch an, dass der größte Teil ihrer Bausubstanz aus Zeiten stammt, als Burgen nicht mehr in erster Linie zu Verteidigungszwecken gebaut wurden, sondern als Verwaltungssitze und repräsentative Anwesen dienten. Sie liegen oft etwas versteckt in idyllischen Flußtälern und sind fast alle heute noch in Privatbesitz.

Ein großer Teil der Strecke kreist um das Gemeindegebiet von Kelmis oder La Calamine, einer Kommune mit einer recht kuriosen Geschichte: Von 1815 bis 1919 hieß der Ort Neutral-Moresnet und war, der Name sagt es schon, neutrales Gebiet. Schuld daran war eine Zinkmine, die sich auf diesem Territorium befand, als auf dem Wiener Kongress die Grenzen der europäischen Staaten festgelegt wurden.

Galmei heißt der Zinkspat, der hier gefördert wurde, französisch calamine, und er wurde vor allem zur Kupferherstellung verwandt. Die Ausbeutung der Mine muß ein lukratives Geschäft gewesen sein, jedenfalls erhoben sowohl Preußen als auch die Vereinigten Niederlande Ansprüche auf das Territorium. Weil man sich nicht einigen konnte, verfiel man auf einen Kompromiss und machte aus Moresnet eine Art nordeuropäisches Andorra: Ein preußischer und ein niederländischer Kommissar teilten sich in die Verwaltung des Geländes rund um die Zinkmine.

Gross war ihr Verwaltungsbereich nicht: Das Gebiet reichte in einem mehr oder minder tortenförmigen Grundriss vom Drielandenpunt (damals noch ein Zweiländerpunkt) bei Vaals bis zur Straße, die von Aachen nach Lüttich führte. Die schnurgeraden Grenzlinien zeigen, dass man sich am Reißbrett arrangiert hatte, und sowohl der westliche als auch der östliche Teil der Gemeinde Moresnet blieben von der Vereinbarung ausgespart: Der Westen wurde niederländisch (und gehört heute noch als Moresnet-Village und Moresnet-Chappelle zur Nachbargemeinde Plombières), der Osten kam als Preußisch Moresnet zu Preußen.

Neutral-Moresnet umfaßte gerade mal 350 Hektar, auf denen anfangs wenig mehr als 250 Menschen lebten. Das änderte sich allerdings rasch, denn die Mine entwickelt sich spätetens ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts prächtig. Die Zahl der Einwohner stieg rapide, um 1860 lebten und arbeiteten hier bereits um die 2.500 Menschen.

Die Betreiber der Mine lebten nicht schlecht unter der bizarren politischen Situation: Die Besitzverhältnisse in der Betreibergesellschaft Vieille Montagne waren vom Abkommen zwischen Preußen und den Niederlanden ausdrücklich ausgespart geblieben, eher war es so, dass die Minendirektoren die eigentlichen Herren in Neutral-Moresnet waren. Das blieb auch so, als sich der südliche Teil der Niederlande abspaltete und zum Königreich Belgien wurde: Der niederländische Kommissar wurde nun durch einen belgischen ersetzt, auch wenn die Niederländer formal nie auf ihre Ansprüche in Moresnet verzichtet haben. Die Direktoren der Mine fungierten oft als Bürgermeister, und sie sorgten dafür, dass Steuern und Preise recht niedrig blieben. Die politische Betreuung durch zwei interessierte Staaten hatte möglicherweise auch ihre Vorteile, zum Beispiel den, dass sich die Streitparteien in einem Gerichtsverfahren aussuchen konnten, nach welchem Recht geurteilt werden sollte. Und dass im Windschatten der europäischen Politik auch andere Ökonomien ganz gut gedeihen konnten, mag man daran erkennen, dass es für die doppelte Tausendschaft von Einwohnern stolze 60 bis 70 Schnapsbrennereien und Wirtshäuser gab.

Kelmis, Mahnmal Wirtshäuser, Kneipen und Frittenbuden gibt es auch heute noch, vor allem entlang der Haupstrasse. Allerdings merkt man dem Städtchen an, dass es erst relativ spät und dann in rasantem Tempo gewachsen ist: Es fehlt ein natürliches Zentrum, die Hauptstraße ist eine Durchgangsstraße, und der Kirchplatz, der etwas weiter oberhalb liegt, ist hell und offen, aber auch steril und mit der Atmosphäre eines mittelgroßen Parkplatzes.

In den 1880ern war die Mine erschöpft. Von Preußen aus war mittlerweile das Deutsche Reich entstanden, und das machte die Ansprüche auf Moresnet zu einem Zankapfel in der Auseinandersetzung mit Belgien. Der Streit eskalierte so weit, dass das Reich sogar Strom- und Telefonleitungen kappte. In der Kelmiser Bevölkerung tendierte man aber eher zu einem Anschluss an Belgien. Dazu kamen die Bemühungen des Arztes Wilhelm Molly, der auf mehreren Wegen versuchte, Moresnet zu einem unabhängigen Staat zu machen. Er gründete eine „Kelmiser Verkehrsanstalt“, die unter anderem Briefmarken druckte (was allerdings von den Kommissaren rasch untersagt wurde). Später ließ er den ersten Esperanto-Freistaat ausrufen: Amikejo (Ort der Freundschaft) erhielt sogar eine eigene Hymne, ein Wappen und eine Fahne (die Farben sind heute noch in der Stadtfahne von Kelmis zu sehen). Das Abenteuer endete aber spätestens mit dem Beginn der Ersten Weltkriegs und dem Einmarsch der deutschen Truppen.

Göhltalbrücke

Die Deutschen annektierten das Mini-Territorium trotz der zuvor erhobenen Ansprüche nicht direkt, sondern verwalteten es zunächst als besetztes Gebiet. Aber sie begannen rasch, ihre strategischen Vorstellungen umzusetzen, beispielsweise durch den Bau der beeindruckenden Göhltalbrücke, die von 1915 bis 1916 errichtet wurde, um den Nachschub auf der Eisenbahnstrecke zwischen Aachen und Lüttich sicher zu stellen. Man bekommt sie auf der Burgenroute immer wieder in den Blick und fährt nach einer kurzen Abfahrt unmittelbar daran vorbei. Sie ist vor ein paar Jahren renoviert worden und wenn man es nicht besser wüßte, könnte man fast meinen, sie sei erst neu erbaut worden. Ein paar Wohnhäuschen sind entlang der Straße unterhalb der Brücke aufgereiht, und von der Brücke aus könnte man meinen, sie ducken sich eingeschüchtert zur Seite hin weg.

Die Burgenroute schwenkt hier von ihrem Rundkurs um Kelmis nach Westen und macht eine Schleife nach Westen. Da kommt man dann in ein ganz anderes Territorium, und zwar in eines, wo es nicht um Neutralität geht, sondern um erbittertes Ringen um Zugehörigkeiten und Pfründe. Man erreicht Voeren oder Fourons, einer der am heftigsten umkämpften Gemeinden im Streit zwischen Flamen und Wallonen. Die Kommune gehörte mal zur wallonischen Provinz Lüttich, wurde dann aber als Exklave dem flämischen Limburg zugeschlagen, und darüber streiten sich die Communities hier noch immer: „Fourons Wallons“ heißt es auf einem Stromumsetzer am Dorffriedhof von Sint-Pieter-Voeren oder Fourons-Saint-Pierre. Nur der letztere Name ist auf dem übersprayten Ortsschild noch einigermaßen zu erkennen, wobei ein Sprayer auch das „Fourons“ in „Fou“ abgekürzt hat. Belgien ist weniger ein echter Konfliktherd als mehr eine Bierzeltschlägerei waiting to happen. Bezeichnenderweise haben die Schilder der Burgenroute hier vorsichtshalber gar keine Beschriftung wie sonst auf dem Rest der Strecke, sondern nur ein Icon, damit es erst gar keinen Grund gibt, sie zu besprühen.

Kasteel Beusdael
Man bleibt nur kurz auf dem Gemeindegebiet, dann führt die Strecke nach rechts, läuft parallell zur niederländischen Grenze, passiert mit Kasteel Beusdael die vielleicht schönste Burg der Strecke, und dann geht es hoch zum Dreiländereck: Dem Punkt, der mal die Spitze des bizarren Gebildes namens Neutral-Moresnet bildete.

Eine Antwort

  1. Avatar von Hans Hermans
    Hans Hermans

    Liebe Leute, 01.11.2006

    sehr interessant, aber nicht 100 % richtig.
    bereits 1661 war dort einen Dreilaenderpunkt.
    Vaals (Holland), Gemmenich (Spanien) und Aachen (Deutschland).
    Die Goehltalbruecke steht nicht in Neutral Morneset sonderen in Vieux Moresnet.
    Mit freundlichen Gruessen (H5)
    Historische Heemkunde Hans Hermans Heerlen

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