Das ist der neue Hauptbahnhof von Lüttich: Eine grandiose Brandung aus Glas, Stahl und weißem Beton, die sich über die verstaubten Hausdächern und Backsteinfassaden des Stadtviertels Guillemins wölbt. Ein Skulptur gewordenes Computer-Diagramm, das im Takt des Fern- und Nahverkehrs in die Stadt hineinoszilliert. Entworfen hat das Gebäude der Starchitekt Santiago Calatrava, offizielle Eröffnung war vor einigen Wochen im September. An einigen Ecken wird allerdings noch gebaut und geschraubt, und oben auf dem Dach turnen einige akrobatische Arbeiter herum.
Futuristische Gebäude beschreibt man auch gerne als „Raumschiff“. Tatsächlich gibt es hier so viele offensichtliche und verschwenderisch platzierte Zitate aus dem Science-Fiction-Arsenal, dass die Metapher hier tatsächlich mal zutrifft. Die Sockel und Basen beispielsweise, in denen die Tragbögen auslaufen, ähneln wirklich den Landebeinen oder Stützfüßen einer Raumsonde. Anderswo marschieren Pfeiler wie außerirdische Tausendfüßler die Fassade entlang. Die Fahrstühle gleiten wie Raumkapseln zwischen den Ebenen hin und her. (Man könnte sie aber auch mit Spritzen vergleichen, die die Besucher des Bahnhofs von einem Stockwerk ins andere injizieren). Und die Shopping-Passage im Untergeschoß ist eine seltsame Mischung aus technoidem Art Déco und Kampfstern Galactica.
Der Bahnhof von Guillemins ist ein spektakuläres Gebäude, keine Frage. Es gibt vieles, was man mit offenem Mund und nerdigem Staunen bewundern muss. Die lässige Gigantomanie der Bahnhofshalle vor allem, die sich wie ein transparentes Zeltdach über den Gleisen spannt: Hier ist der Bahnhof kein düsteres Verwaltungsgebäude zum Zurechtstöpseln der richtigen Verbindungen, sondern will Dynamik, Geschwindigkeit und Flexibilität sichtbar machen. Der Blick auf die Stadt wird nicht versperrt, sondern in die Inszenierung hineingeholt. Alles ist hell, weiß, lichtüberflutet, hier ist die Zukunft noch eine unverhohlen optimistische Vision, ein unbeschriebenes, aber zu bearbeitendes Blatt, wenn auch mit sauberen Rastern und Linien wie im Matheheft. Es hat fast etwas Ernüchterndes, wenn die schrabbeligen belgischen Nahverkehrszüge in diese cleane Kathedrale des Techno-Optimismus einrumpeln: Eigentlich erwartet man eher das leise Zischen einer aerodynamischen Magnetschwebebahn, aber das kann ja noch kommen.
Allerdings: So beeindruckend diese große Inszenierung ist, sie hat auch etwas Generisches. So richtig will diese grandiose Architektur nicht in das Umfeld passen. Noch nicht, könnte man sagen, denn natürlich gibt es längst Pläne und Konzepte, wie der Bahnhof zu einer Aufwertung des umliegenden Viertels führen und als Symbol für eine urbane Renaissance Lüttichs wirken könnte. Aber diese Pläne stehen für sehr unterschiedliche Auffassungen, je nach dem, von welcher Warte aus sie verkündet werden: Calatrava etwa (und mit ihm die belgische Eisenbahn SNCB und ihre Tochter Euro Liège TGV) hat eine Lösung von Haussman’scher Radikalität vorgeschlagen, nämlich das Schlagen einer breiten Schneise bis zum Ufer der Maas. Vom Ufer des Flusses aus hätte man dann – über einen künstlichen Kanal hinweg – einen grandiosen Blick auf den Bahnhof. Bei der Kommune denkt man pragmatisch und hat ein Konzept entwickeln lassen, dass repräsentative Elemente (eine Allee zur Maas, ein Wolkenkratzer als Finanzwirtschaftszentrum) mit infrastrukturellen Verbesserungen ausbalancieren will (neuer Wohnraum, neue Büroflächen, aber wenig Einzelhandel, um bestehende Strukturen nicht zu gefährden).
Welche dieser Ideen sich durchsetzen wird, ist fraglich, erst recht im aktuellen wirtschaftlichen Umfeld. Der Bau des Bahnhofs hat lange genug gedauert (von 1996 bis 2009) und weit über 300 Millionen Euro verschlungen. Die lange Bauzeit hat die Lebensqualität im Viertel nicht gerade verbessert, ganze Straßenzüge sind verschwunden, Immobilienbesitzer mußten ihr Eigentum aufgeben, Mieter ihre Wohnungen wechseln. Die Stadt, heißt eine häufige Kritik, habe sich lange von der SNCB und ihrer Projektgesellschaft am Gängelband führen lassen und erst spät dem Profilierungsdrang der Eisenbahner mit eigenen Visionen Paroli geboten. (Die Universität Lüttich hat in einer lesenswerten Fallstudie (frz., PDF) die wichtigsten Positionen aufbereitet.)
Guillemins ist kein glanzvolles Viertel: Der Bahnhof ist sein raison d’être. Hier fanden die Bahningenieure des 19. Jahrhunderts den günstigsten Ort, um den Verlauf der Eisenbahnstrecke möglichst effizient an die topographischen Gegebenheiten Lüttichs anzupassen. Die Stadt liegt in einem Becken, das ringsum von steil abfallenden Hügeln umgeben ist. Der größte Teil von Guillemins entstand mit der Eisenbahn, was der Bebauung des Viertels zwar einen sehr homogenen Charakter gibt (viele Gebäude sind noch aus dem 19. Jahrhundert), aber auch die Bestimmung eines klaren Profils schwierig macht. Das Viertel ist vor allem ein Korridor zwischen Stadt und Bahnhof, es gibt wenig Grün und wenig Parkplätze, und wer sich hier aufhält, tut das meistens nicht lange. Und auch unter denen, die hier wohnen, ist die Fluktuation hoch, heißt es in der Studie der Uni Lüttich: Studenten und Gastarbeiter finden hier noch günstigen Wohnraum, ziehen aber meist wieder weg, wenn sich die Lebensumstände ändern.
Es ist trotzdem ein lebendiges Viertel, und eine Revitalisierung könnte auch dort ansetzen, wo es schon Vitalität gibt. Lokale Akteure sollen auch bei der Neugestaltung des Viertels berücksichtigt werden, verspricht die Kommune. Aber es ist fraglich, wie sich diese lokalen Interessen mit den großen Ideen Calatravas, der SNCB und der Euro Liège TGV in Einklang bringen lassen. Oder ob dem Bahnhof am Ende ein ähnliches Schicksal droht wie vielen anderen Prestigeprojekten: Als einsames Monument einer längst vergangenen urbanistischen Hybris (man sollte nicht vergessen, dass das Konzept des Gebäudes schon Anfang der 90er formuliert wurde) und einer nie eingetretenen Zukunft vor sich hin zu dämmern. Aus dem makellosen weißen Raumschiff könnte schnell ein technoides Sauriergerippe werden, dessen verstaubte Knochen in den grauen wallonischen Himmel ragen.
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