Vor der Melanchthonkirche in Essen, einem unscheinbaren Betonbau aus den Siebziger Jahren, stehen diese zwei Glocken. Auf den ersten Blick könnte man sie einfach für dekorative Elemente halten, ähnlich wie die gusseisernen Übertöpfe, die manche Leute gerne in ihre Vorgärten platzieren. Aber eine Gedenktafel erklärt, warum die Glocken hier stehen. An dieser Stelle befand sich in den Dreißiger Jahren ein Vorgängerbau, eines der bemerkenswertesten und seltsamsten Beispiele moderner Kirchenarchitektur: Die Stahlkirche von Otto Bartning.
Diese Kathedrale aus Stahl und Glas war ein Gebäude von beachtlicher Größe, wie man auf dem Photo hier sehen kann. Ich kenne nicht die genauen Maße, aber auf dieser Bartning gewidmeten Seite lesen wir, dass „den konstruktiven Kern außen mit Kupfer verkleidete 20 m hohe Stahlträger“ bildeten und „die Zwischenräume mit über 660 bleiverglasten Fensterfeldern ausgefacht“ waren. Von außen erinnert diese große Fensterfläche an die gläsernen Fassaden mancher Werkshallen. Die Türme sehen aus wie Wolkenkratzer oder Silos, das Kirchenschiff dagegen ist tatsächlich ein Kirchenschiff.
Es ist, könnte man sagen, die stilisierte Version einer Steampunk-Kirche, eine Kombination aus Industrial und Gothic Design. Dass die Kirche wie ein überdimensionaler Bausatz wirkt, ist kein Zufall: Sie war tatsächlich als Bausatz konzipiert. Erstellt wurde sie ursprünglich nicht für den Standort in Essen, sondern für die Pressa, die „Internationale Presse-Ausstellung“ 1928 in Köln. Das war eine ehrgeizige Großveranstaltung, eine Art Kreuzung aus Expo und Medienforum, sozusagen ein erster Versuch Kölns, sich als Medienmetropole zu positionieren. Die Stahlkirche diente dort als Ausstellungspavillon der Evangelischen Kirche, und natürlich als architektonisches Statement, das den Willen der Kirche, Anschluss an die Moderne, an „Stahlbad“ und „Feuertaufen“ aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen halten zu wollen. (Und natürlich war das auch die einmalige Gelegenheit, eine aufsehenerregende protestantische Kirche quasi vis à vis vom Kölner Dom zu platzieren.)
Eigentlich sollte die Kirche nach Ablauf der Veranstaltung an eine interessierte Kirchengemeinde verkauft und dort aufgebaut werden. Allein, das Interesse war nicht allem Anschein nach nicht so groß wie man erhofft hatte. Das mag nicht allein am Bau gelegen haben, auch die schwierige wirtschaftliche Situation vieler evangelischer Gemeinden könnte dafür verantwortlich gewesen sein. Schließlich meldete die Gemeinde Essen-West Interesse an und erhielt den Kirchenbausatz „kosten- und lastenfrei“.
Ich weiß nicht, ob jemals so etwas wie eine Serienproduktion der Stahlkirche angedacht war, oder zumindest so eine Art Build-on-demand. Die Vorstellung, irgendwo gäbe es eine Art Kirchenwerft, in der T-Model-Kathedralen quasi am Fließband produziert werden, um dann auf spezielle Frachtschiffe verladen und um die Welt geschippert zu werden, finde ich ganz amüsant. Und warum nur Kirchen? Jeder andere Gebäudetyp ließe sich doch so produzieren und je nach Bedarf irgendwohin transportiert, auf- und wieder abgebaut werden. Nomadische Gebäude: Irgendwo auf dem Atlantik begegnen sich zwei Frachtschiffe, und zufällige Beobachter sehen am Horizont eine gotische Kathedrale und eine Moschee (mit oder ohne Minarett) aneinander vorbeigleiten. Irgendwann werden einige dieser Schiffe von somalischen Piraten gekapert, und an der ostafrikanischen Küste entsteht ein zufälliges Museum internationaler Architektur.
In Crusnes in Lothringen steht zum Beispiel ebenfalls eine stählerne Kirche, die als Prototyp eines Readymade-Gotteshauses für die katholische Misisonsarbeit konzipiert wurde. Und nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Bartning mit den sogenannten „Notkirchen“ eine modulartige Architektur aus standardisierten Kirchenbausätzen, um ausgebombten Gemeinden den schnellen Aufbau zu ermöglichen. (Eine solche Notkirche befindet sich heute noch in Essen neben der Apostelkirche, nicht weit von der Melanchthonkirche.)
Bartning ist allerdings kein Protagonist einer industrialisierten Fertigarchitektur, auch wenn er in der Praxis häufig mit kostengünstigen, einfach zu reproduzierenden Materialien, Formen und Bauweisen arbeitet. Als Architekturtheoretiker ist ihm aber daran gelegen, den kirchlichen Raum von der reinen Zweckbestimmtheit profaner Architektur zu emanzipieren (und der Mainstream der zeitgenössischen Kirchenarchitektur zu Anfang des 20. Jahrhunderts ist für ihn nur ein Modus von Profanarchitektur). 1919 veröffentlicht er die einflussreiche Schrift Vom neuen Kirchenbau. Darin fordert er ein „aufrichtiges“ Bauen: Authentisch ist Kirchenarchitektur nur dann, wenn sie den sakralen Charakter des Baus würdigt, den „Religionstrieb“ des Einzelnen mit räumlichen Mitteln in eine „Hochspannung“ überführt und zugleich gemeindebildend wirkt, also auf eine kommende Gesellschaft jenseits der „Nationen, Rassen und Konfessionen“ hinwirkt.
In den Zwanziger Jahren entwirft er das Modell einer „Sternkirche“, ein expressionistischer Bau, der die traditionelle Anordnung des Kirchenraums fast völlig auflöst und im Sinne eines „radikalen Architekturmodells“ (radikal heißt hier: von der Wurzel ausgehend) neu arrangiert, und dabei auch ganz pragmatische Aspekte nicht ausklammert:
Die Kirche soll alle Tage geöffnet sein. Die kapellenartigen Sakristeien hinter den Orgeln und Fensternischen im Chor – mit Wandmalerei und ans Lesepult geketteten heiligen Schriften – mögen Anlass zu stiller Betrachtung geben. (Dem Diebstahl ausgesetzte Schmuckwerte sollen lieber vermieden werden, als dass um des Schmuckes willen die Kirche ans sechs Tagen der Woche verschlossen bleibt.)
Eine ausführliche Würdigung dieses Modells und einiges Hintergrundmaterial gibt es auf einer Website, die eigens der Sternkirche gewidmet ist. Gebaut wird diese Kirche zwar nie, vermutlich war der Entwurf den meisten Gemeinden doch zu kühn, aber einige Ideen hat Bartning hier und da umgesetzt, z.B. in der kreisrunden Auferstehungskirche (ebenfalls in Essen), und auch in der Raumkonzeption der Stahlkirche lassen sich noch ein paar Elemente finden.
In der Essener Gemeinde war die Stahlkirche auch nach ihrer Errichtung nicht unumstritten. Kritische Stimmen kamen vor allem aus der Fraktion der „Deutschen Christen“, deren Einfluss nach der Machtergreifung Hitlers deutlich zunahm. 1935 ließ man das Altarkreuz entfernen, weitere Maßnahmen verhinderte wohl der Krieg. 1942 wurde die Kirche in einem der ersten Bombenangriffe auf Essen komplett zerstört, ein stählernes, halb geschmolzenes Gerippe, das nicht mehr den Aufbruch in eine kommende Gesellschaft, sondern den Anfang vom Ende markierte.
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