Im Westerwald, an der Kreisstraße 70 auf dem Gebiet der Gemeinde Asbach, steht dieses Wegkreuz. Kein übliches Wegkreuz, denn die Aufschrift verrät, dass sich hier eine tragische Geschichte abgespielt haben muss:
Jesus! Maria! Joseph! Laurentius!
Betet für den hier am 28. Oct. 1888 gestorbenen Jüngling
Johann Schellberg
Geb. zu Altenburg 21. Juli 1851
Memento mori
RIP
Wer Johann Schellberg war und was ihm hier zugestoßen ist, weiß ich nicht. Aber sein Schicksal muss von einem weitläufigeren Interesse gewesen sein, sonst hätte man in seinem Namen wohl kaum ein Mahnmal dieser Größe errichtet. Und da man sich auch die Mühe gemacht hat, das Kreuz durch eine Stütze zu stabilisieren, scheint man seinem Gedenken eine möglichst lange Dauer gewünscht zu haben.
Das Internet ist in diesem Fall keine große Hilfe: Die Google-Suche nach seinem Namen fördert als einziges stichhaltiges Ergebnis bizarrerweise eine Excel-Tabelle zu Tage, die offenbar als Aufgabenliste für die Rallye eines Porsche-Fanclubs gedacht war – da wird aber auch nichts erklärt, sondern nur nach zwei Details der Inschrift gefragt.
Von den Mordkreuzen früherer Jahrhunderte bis zu den Unfallkreuzen, die man heutzutage am Straßenrand finden kann: Es gibt im öffentlichen Raum zahlreiche Spuren, die an persönliche Tragödien erinnern. Vor etwas über einem Jahr kam ich auf meinem Nachhauseweg gerade an der Errichtung eines solchen Unfallkreuzes vorbei. Es war ein bewegender und befremdender Moment: Ein kleines Menschengrüppchen hatte sich da am Straßenrand versammelt, einige davon sichtlich verzweifelt und weinend, andere betreten schweigend, und da hindurch versuchte ich, um Behutsamkeit und Diskretion bemüht, meinen Weg zu navigieren.
Über das Schicksal des Verunglückten an meinem Nachhauseweg weiß ich aus der Zeitung ein bisschen mehr als über den Tod Johann Schellbergs, wenn auch nicht viel. Ein Fußgänger, der nachts auf der gehweglosen Seite der Straße unterwegs war und dort von einem scheinbar angetrunkenen Autofahrer erfasst wurde. Nur wenige Tage davor oder danach passierte an einer anderen Ecke der Stadt, nur ein paar Kilometer entfernt, ein anderer tödlicher Unfall: Ein Kind wurde beim Überqueren der Straße von einem abbiegenden Auto überfahren. Auch dort war die Unglückstelle bald durch Bilder, Blumen, Kerzen und ein Kreuz gekennzeichnet. Diese Mahnmale gibt es immer noch, ich komme fast jeden Tag daran vorbei, und erst kürzlich – es müßte in etwa der Jahrestag gewesen sein – wurden neue Kerzen und frische Blumen dort aufgestellt.
Seither fallen mir Unfallkreuze häufiger auf als früher, und ich habe – wenn auch noch eher beiläufig und unsystematisch – begonnen, einige davon zu fotografieren. Es gibt viele Aspekte, die mich an diesen Mahnmalen interessieren, vor allem ist es aber das unmittelbare Aufeinandertreffen von öffentlichen Raum und privater Geschichte. Das tragische Schicksal eines Verwandten oder Freundes zwingt zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit einem bestimmten Ort, und diese Kreuze sind die Spuren davon. Oder besser gesagt: Sie sind eine Art sichtbarer Protest dagegen, dass die persönliche Tragödie spurlos bleiben könnte.
Aber mehr als Spuren bieten diese Kreuze in der Regel nicht: Namen, Lebensdaten, eventuell ein Bild, das ist es schon. Als ginge es um ein Paradox, nämlich eine Geschichte zugleich erzählen und doch für sich behalten zu dürfen, als wollte man den Betrachter ermahnen und gleichzeitig auf Distanz halten. Gerade die unbeholfensten und amateurhaftesten dieser Mahnmale sind darum oft die rührendsten, weil bei ihnen die Diskrepanz zwischen der Absolutheit eines Todesfalls und der banalen Alltäglichkeit des Vergessens so sichtbar ist.
Es gibt Orte, an denen viele Kreuze zu sehen sind, offensichtliche accident blackspots. Eine berüchtigte Unfallstrecke ist zum Beispiel die Landstraße zwischen Bad Münstereifel und Schuld: Hier vergeht kaum ein Kilometer ohne ein Kreuz, außerdem gibt es Warntafeln mit deutlichen Formulierungen. Eigentlich fährt man hier durch eine ganz beschauliche Landschaft, und trotzdem scheint diese Straße etwas an sich zu haben, das zum Gasgeben oder zur Unaufmerksamkeit verleitet. Die Häufigkeit der Kreuze hat hier etwas Makabres, wie die Skelette und Totenschädel, mit denen Comic-Autoren lebensgefährliche Orte kennzeichnen.
Und vielleicht ist es auch so, wie einer der Protagonisten im Film Withnail & Ispekuliert:
Look at that. „Accident Blackspot“? These aren’t accidents. They’re throwing themselves into the road gladly. Throwing themselves into the road to escape all this hideousness.
- (Siehe auch diesen Artikel in der New York Times mit Pro und Contras zu „Roadside Memorials“,
- den Text über Roadside(memorial)america.com bei Pruned
- diesen Flickr-Set mit Descansos in Florida
- und dieses grandiose Blog über eine ganz andere Art von accident blackspot in Paris.)
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