Badiou über Tunesien


Eins der vielen bemerkenswerten Fotos, die zur Zeit aus Kairo die Runde machen: Ein muslimischer Prediger, der Koran und Kreuz gleichermaßen zu umarmen scheint. Das ist, sagt der Optimist in mir, durchaus ein emanzipatorisches Zeichen, ein Widerspruch gegen die herrschende Vorstellung von der Unversöhnlichkeit der Kulturen. Der Nörgler in mir würde allerdings gerne wissen, ob die gleiche Szene auch mit einem jüdischen oder, wenn’s denn ginge, atheistischen Symbol denkbar wäre.

Was sich in den vergangenen Wochen vor unseren Augen entfaltet habe, sei nicht ein Ereignis, sondern zwei, schreibt Bernhard-Henri Lévy: Eine erfolgreiche Revolution in Tunesien, und eine in Ägypten, die sich noch selbst suche. Welchen nachhaltigen Erfolg die tunesische Revolution über die Vertreibung Ben Alis hinaus haben wird, muss sich freilich erst noch zeigen, und grundsätzlich scheint mir, dass es in Tunesien, in Ägypten und anderswo in der arabischen Welt zeigen, ganz wesentlich darum geht, erst mal Räume zu schaffen, in denen so etwas wie „Selbstfindung“ stattfinden kann. Um das drückende politische Klima aufzulösen und den Anspruch des Systems, alternativlos zu sein, auszuhöhlen, muss wohl tatsächlich erst einmal das Vakuum, das viele westliche Kommentatoren befürchten, erzeugt werden, damit sich überhaupt Perspektiven auf Alternativen ergeben. Und wie die bemerkenswerte E-Mail einer ägyptischen Demonstrantin zeigt, die bei Graham Harman zitiert wird, gibt es wohl einige Demonstranten, denen das auch bewusst ist.

The absence of a person or a group of persons as a recognizable leadership group or figures is intentional. The intellectual young people who started all this are actually leading by spreading awareness among the people in the square, rather than by giving orders and this is making the pressure of the street crowds even more forceful. Simply because it is the people rather than this or that specific name who is reacting and deciding

Alain Badiou hat vor einigen Wochen zur Revolte in Tunesien erklärt, dass daran vor allem „ihre Historizität fasziniert“: Weil sie den Beweis erbringe, „dass die Fähigkeit, neue kollektive Organisationsformen zu schaffen, intakt ist“ und damit die Rede von einem „Ende der Geschichte“ – im Sinne einer nicht mehr möglichen Ereignishaftigkeit (évenementialité historique) – widerlegt sei. Badiou relativiert die Geschehnisse allerdings insofern, als er sie nicht Revolution nennen will, sondern Aufruhr (émeute):

Aufrührerische Tendenzen entstehen meiner Auffassung nach in Zwischenzeiten (périodes intervallaires). Was ist unter diesen Zwischenzeiten zu verstehen? Auf eine Phase, in der revolutionäre Logik Klarheit gewinnt und sich ausdrücklich als Alternative zeigt, folgt eine Phase, in der revolutionäre Logik ohne Nachfolge bleibt und nicht weitergegeben wird, da eine neue alternative Tendenz noch nicht entworfen ist. Von diesen Phasen können reaktionäre Kräfte tatsächlich behaupten, eben weil Alternativen geschwächt sind, dass die Dinge ihren ’natürlichen‘ Lauf nehmen. […] In diesen Zwischenzeiten gibt es Unzufriedenheit, aber sie ist nicht strukturiert, da sie ihre Kraft nicht aus der Teilhabe an einer Idee ziehen kann. Ihre Kraft ist wesentlich negativ („Weg mit ihnen!“). Darum nimmt das Kollektivhandeln der Masse in einer Zwischenzeit die Form des Aufruhrs an. Wie etwa in der Zeit von 1820-1850 [in Frankreich]: Eine Zeit großer Revolten, die gleichwohl nicht steril waren, blind vielleicht, aber dennoch fruchtbar. Die großen globalen politischen Richtungen, die das Rückgrat des folgenden Jahrhunderts bildeten, entstanden in dieser Zeit.

Das besondere Problem eines Aufruhrs, insofern er die Staatsmacht herausfordert, besteht darin, dass er zwar den Staat einem politischen Wandel aussetzt (nämlich der Möglichkeit seines Zusammenbruchs), aber diese Veränderung nicht selbst darstellt: Was sich im Staat verändern wird, ist im Aufruhr nicht vorgebildet. Das ist der wesentliche Unterschied zu einer Revolution, die sich selbst als Alternative anbietet. Aus diesem Grund haben sich die Aufrührer aller Zeiten darüber beklagt, dass ein neues Regime mit dem alten identisch ist.

Dass die Post-Mubarak- und Post-Ben-Ali-Ära nur kosmetisch veränderte Varianten der Zeit davor sein werden, ist ja durchaus wahrscheinlich (und wohl die realistischere Gefahr als ein mögliches Erstarken radikaler Islamisten, auch wenn sich der Westen davor am ärgsten gruselt). Das wichtigste Ergebnis, das eine Revolte erreichen kann, ist demnach vor allem die Erschütterung der symbolischen Ordnung, auch wenn diese – wie der Kojote im Zeichentrickfilm – noch eine Weile hängen bleibt über dem Abgrund, der sich unter ihr aufgetan hat.

Die verhasste Macht bricht wenigstens symbolisch zusammen. Aber was wird bejaht? Die westliche Presse hat das schon beantwortet: Was sich dort ausdrücke, sei eine Sehnsucht nach dem Westen. Nun lässt sich sicher bestätigen, dass es um eine Sehnsucht nach Freiheit geht, und dass eine solche Sehnsucht unter einem derart despotischen und korrupten Regime wie dem von Ben Ali zweifellos ein legitimer Wunsch ist. Problematisch ist aber, ob diese Sehnsucht auch eine Sehnsucht nach dem Westen ist.

Man muss daran erinnern, dass der Westen als Macht bisher keinen Beweis dafür geliefert hat, dass ihm die Frage, wie Freiheit an den Orten organisiert werden könnte, wo er interveniert, tatsächlich wichtig ist. Für den Westen zählt nur: ‚Geht Ihr mit uns oder nicht?‘, wobei der Ausdruck ‚mit uns gehen‘ nur aus der Innensicht der Marktwirtschaft heraus mit Bedeutung versehen wird. […] Wenn die Einschätzung von Marx zutrifft, dass der Raum der Verwirklichung emanzipatorischer Ideen der globale Raum ist (was, nebenbei bemerkt, bei den Revolutionen des 20. Jahrhunderts nicht der Fall war), dann kann das Phänomen eines Einschließens in die westliche Ordnung (l’Occident) nicht als wahre Veränderung angesehen werden. Eine wirkliche Veränderung wäre ein Heraustreten aus dem Westen, eine Entwestlichung (déoccidentalisation), und sie nähme die Form eines Ausschlusses (exclusion) an.

Der „Westen“, der da ausgeschlossen werden soll, ist laut Badiou die „Gesamtheit, die aus Marktwirtschaft und dem Parlamentarismus gebildet“ und als „unübersteigbare Norm gesetzt“ wird, nichts anderes im Grunde als der Name, „den diese Gesamtheit sich selbst gibt“. Dieser Westen hat sich allerdings in den vergangenen Wochen eher als hilflos und ohnmächtig erwiesen und entweder mit Revolutionsromantik, die die Ereignisse in Kairo und Tunis nach den Maßstäben eines popkulturellen Großevents bewertet, oder mit der Paranoia, die aus Sarah Palins Forderung aufscheint, man müsse herausfinden, wer „hinter“ den Ereignissen in Kairo stecke. Die spannende Frage ist, wer in den kommenden Wochen und Monaten die Deutungshoheit über die Ereignisse bekommt. Dass es überhaupt etwas gibt, das gedeutet werden muss, ist möglicherweise das wichtigste Ergebnis der vergangenen Wochen.

In diesem Zusammenhang könnte es auch interessant sein, sich mit einem Protégé Badious zu beschäftigen, nämlich Mehdi Belhaj Kacem, vor allem mit dessen Buch L’esprit du nihilisme, zu dem es bei CTheory eine hilfreiche Rezension gibt. Die Frage, die sich das Buch stellt, könnte kaum zeitgemäßer sein, nämlich: „Wie kommt es, das in der modernen Welt der Ort des Ereignisses (site événementiel) und der Ausnahmezustand so oft das Gleiche sind?“ Und warum „legt ein Ereignis politisch so oft die Saat des Ausnahmezustandes und führt damit zu der Verwirrung, die zwischen ‚positivem‘ (revolutionärem) und negativem Ereignis (Genozid, staatliche Verbrechen) entsteht“. Ich kenne das Buch nicht, aber den Versuch, „Agamben mit Badiou“ zu verschmelzen und eine „Theorie des dunklen Ereignisses“ zu entwerfen, „eines Ereignisses, das nicht die Treue eines Subjekts beansprucht, sondern auf ein grundlegend Böses hinweist, eine beginnende Tragödie“.

Interessanterweise hat sich Belhaj Kacem im vergangenen Jahr recht deutlich von Badiou distanziert, in einem Interview, aus dem ich nur ein kurzes Zitat kenne, das aber – vor allem im aktuellen Kontext – um so bemerkenswerter ist:

Badiou lenifiziert und verkitscht, wenn er seinen platonischen Refrain anstimmt: „Lebe nach einer Idee“, usw. Aber diese Pose ist, ethisch betrachtet, unzulässig, denn sie verschleiert sie die Realität des Negativen, weil sie vom Guten beherrscht wird; es gibt kein Denken des Bösen bei Badiou. Er weicht der Frage des Leidens, der Massaker, in fine der Verantwortlichkeit der Menschen aus. Er entwirft den Tod nicht als ein Ereignis, das heißt einen Skandal, sondern als ein Phänomen des Verschwindens, das von anderen natürlichen Phänomenen nicht zu unterscheiden ist. Schlußendlich setzt er Auschwitz mit einem Tsunami gleich: Nur eine Katastophe, für die man nichts kann. Badiou tendiert zum Engelskult (angélisme). Er brüstet sich damit, ein Atheist zu sein und der Laizität zuzuneigen, aber in Wahrheit ist er ein katholischer Metaphysiker. Er behauptet eine Reinheit von Seelen, die das Gute unvermischt anstreben und die bereit sind, alles zu tun, um es zu erreichen – dieser gute Mao. Ich wäre dagegen lieber ein protestantischer Metaphysiker: Was die Menschheit grundiert, ist die Ursünde, der Einbruch der Gewalt. In letzter Konsequenz ist das Böse dem Guten vorgängig und in meinem System definiere ich das Ereignis durch dieses Leitmotiv: Die Transgression (also das Böse) kommt vor der Legislation (die Gleichung Gesetz = das Gute).

Belhaj Kacem schreibt zur Zeit für Bernard-Henri Lévys Zeitschrift La Règle du jeu aus und über Tunesien (bisher vor allem aber über das Zerwürfnis mit Badiou).

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